Montag, 3. April 2006

Die Fünfte Schöne

Geschrieben am 18. Januar 2006 in Pichilemu (Chile):

Über Chiles landschaftlichen Reichtum vergisst es sich schnell, dass es in diesem Land auch Armut gibt. Aber – wie fühlt sie sich eigentlich an, diese Armut?

Ich bin nicht arm. Wenn ich zuvor an Armut dachte, habe ich mir immer vorgestellt, dass die Tragik darin liegt, kein Geld zu haben, jeden Peso dreimal umdrehen zu müssen und sich nichts leisten zu können. Sobald Nahrung und Unterkunft vorhanden sind, so dachte ich, könne man sich doch wenigstens einigermaβen im Leben einrichten. Mittlerweile glaube ich, dass es nicht unmittelbar der Mangel an Geld ist, der das Armsein so grausam macht. Schlimmer ist die physische und psychische Bedrängung, die mit der Armut einhergeht.

Die Siedlung Quinta Bella (die „Fünfte Schöne") im Stadtteil Recoleta gehört nicht zu den ärmsten Vierteln Santiago de Chiles. Dennoch empfiehlt es sich nicht, nach Einbruch der Dunkelheit alleine durch die población zu spazieren. Ein Deutscher, der die Fünfte Schöne unbedarft betrachtet, würde wohl zu dem Schluss kommen, dass es sich hierbei um eine ausgebaute Schrebergartenkolonie handelt: Kleine, flache Lauben aus Holz, mit teils liebevoll gepflegten Gärten, säumen bereits geteerte Straßen und kleinere Passagen. Auf den ersten Blick ist die Siedlung eine kleinbürgerliche, etwas herunter gekommene Schönheit. Dass die Häuser, die nach außen hin so wohnlich aussehen, aus Platten verschiedensten Materials der Marke „Eigenbau" zusammengesetzt sind, sieht man erst bei einem Blick hinter die Fassaden. Dann erscheinen die Lauben oft nicht besser, als die Hütten eines Bauspielplatzes. Die Wände der eng verschachtelten Behausungen sind so dünn und unisoliert, dass ich die ersten Nächte dachte, Fremde seien in unser Haus eingedrungen, dabei handelte es sich lediglich um unsere Nachbarn ringsherum. Unser Lieblingsnachbar nutzt seine Nächte übrigens dazu, sich nach Herzenslust auszurotzen und auszurülpsen.

Das Haus von Gaby, in dem ich wohne, gehört zu den schönsten und größten der Siedlung, wie Gaby selbst berechtigterweise betont. Wir bewohnen augenblicklich zu sechst etwa 60m2, wobei der größte Raum, das Wohn- und Esszimmer, unbenutzt bleibt. Jetzt im Sommer spielt sich das Leben in der Küche, dem Hof, dem Bad, den beiden Schlafzimmern und dem Flur ab. Neben meinem steht noch ein weiteres Bett in jeweils einer Nische am Ende des Flurs. Dies bedeutet, dass ich außer dem viel frequentierten Klo keine Möglichkeit habe, mich in einen Raum mit Tür zurückzuziehen. Auch wenn ich mich einmal für einen Augenblick hinlege, dauert es zumeist keine fünf Minuten, bis irgendjemand – ohne anzuklopfen, wie auch! – angeschossen kommt: um mich etwas zu fragen, um mit mir zu reden oder um etwas aus dem Gemeinschaftsschrank zu holen, der sich ebenfalls in meiner Nische befindet. Die Flucht in einen inneren, vorübergehenden Autismus bleibt ebenfalls verwehrt, da die aufrichtig herzliche, liebenswerte und rührend fürsorgliche Gaby über einen nur allzu menschlichen Fehler verfügt: Sie redet vom Aufstehen bis zum Schlafengehen und das ohne Punkt und Komma. Ihre neuenjährige Enkelin Daniela, die während der Ferien bei ihrer abuelita wohnt, steht ihr da in nichts nach. Es ist schwierig, adäquat auf einen Wortschwall zu reagieren, von dem man zum einen, wegen des starken chilenischen Dialektes, nur die Hälfte verstanden hat und während man zum anderen sich gerade darauf konzentriert ein paar Sachen zusammenzupacken. Nicht selten ist es vorgekommen, dass bis zu drei Menschen gleichzeitig auf mich eingeredet haben, während ich eigentlich mit etwas ganz anderem beschäftigt war. Wo kann ich hier mal die Tür zu machen?! Die einzige Gelegenheit des Tages, ungestört zu sein, war während des Yogas. Denn eines hat Gaby verstanden: die komischen Verrenkungen, die ihre Mädchen dort im Hof machen, muß man in Stille absolvieren und streng ermahnt sie Daniela, uns nicht dabei zu stören! Die Nachbarschaft, von der Gaby bis auf Ausnahmen gar nichts hält („Diese Leute!"), denen sie dennoch mit furchtsamer, respektvoller Höflichkeit begegnet, kommentieren oft und gerne, was diese deutschen Gringas dort schon wieder hinter Señora Gabys Gartenzaun treiben. Peinlich genau achtet Gaby darauf, mit welchen Kindern ihre Enkelin spielt. Einige ältere Mädchen, Gangführerinnen, haben Daniela und ihre Großmutter beschimpft. Vor einigen Wochen ist ein Block weiter jemand erstochen worden.

Der Hauptumschlagsplatz für Drogen in der Quinta Bella befindet auf dem kleinen Pfad, der an der rechten Seite unseres ca. 30m2 messenden Hofs entlang führt. Mickrige, zittrige Gestalten warten dort auf den Kauf ihres nächsten Schußes, der oft direkt an Ort und Stelle verabreicht wird. Zu anderen Zeiten erwarten Dealer mit Markenklamotten und dicken Goldketten ihre Kundschaft. Am Wochenende fahren die reichen Kids in ihren blitzeblank polierten Jeeps und Pickups vor. Gaby hat Angst. Und wir beobachten durch die Gitterstäbe des Gartenzauns staunend das Spektakel, das uns dort geboten wird. Dann erscheint der Hof mit seinem Dach aus prallgefüllten Wein und seinen prächtigen Blumen wie eine unwirkliche Insel der sicheren Behaglichkeit im Ozean der Realität. Die Szenerie ist surrealistisch. Bis heute habe ich noch nicht herausgefunden, auf welcher Seite des Zauns sich eigentlich die Zootiere und auf welcher sich die Zoobesucher befanden.

Ab Einbruch der Dunkelheit, wenn sich die Hitze unter der Smoggglocke legt, bis tief in die Nacht hinein wird auf der Straße gesessen, gegessen, gelacht, gespielt, geredet, geschrien, gelebt. Drei verschiedene Basslinien, die aus drei verschiedenen Häusern dröhnen, kämpfen mit der Waffe der Lautstärke um die Vorherrschaft in der Fünften Schönen. Der Geschenkrenner für die lieben Kleinen, die zugleich Quelle und Anlaß jeder Menge Gebrülls sind, war dieses Jahr ein laut ratterndes Mini-Elektroauto, das beim Fahren Melodien mit dem Charme monophoner Handyklingeltöne von sich gibt. Um ein Uhr liege ich dann endlich in meinem Bett. Gegen den Lärm, der von der Straße durch die ungedämpften Pappwände bis zu mir in meine Flurnische dringt, kommen auch Oropax nicht an. Meine Muskeln sind angespannt, alle meine Sinne aufmerksam und mein Geist hellwach. Die Geräusche sind unübersichtlich, unbekannt und ungleichmäßig. Mein Körper ist fluchtbereit; jeden Moment könnte das Mammut über die nicht vorhandene Türschwelle kommen und mich angreifen. Der Schlaf wird leicht, kurz und von wirren Träumen begleitet sein. Morgen wird sich der Tag voller Anspannungen wiederholen. Und übermorgen und überübermorgen und...

Weil ich nicht arm bin, habe ich die Wahl und verlasse die Fünfte Schöne, den Ort der ewigen Beklemmung. Ich bin erleichtert, dass sich meine Agressionen, für die sich kein Ventil finden ließ und die der Zustand des Gefangenseins auf dem Präsentierteller nach nur drei Wochen in mir hervorgerufen hat, bald legen werden. Zurück lasse ich Gaby und Daniela, die wohl liebevollsten Menschen, denen ich jemals begegnet bin. Mit meinem riesigen Rucksack, in dem sich mehr Werte befinden, als einige meiner ehemaligen Nachbarn je besitzen werden, durchschreite ich ein letztes Mal den Spießroutenlauf in meiner Straße der Quinta Bella. Sie heißt Justicia Social – „Soziale Gerechtigkeit".