Donnerstag, 17. August 2006

Herbergseltern und Menschen in Bussen

Geschrieben am 14. August 2006 in Santiago (Chile):

Herbergseltern und Busnachbarn waren auf meiner Reise ebenso interessante wie selbstverständliche Bekanntschaften. So selbstverständlich, dass ich von diesen Menschen eigentlich nie Fotos gemacht habe. Sie waren einfach da. Und dann fuhr ich weiter. Eine herzliche Verabschiedung, gute Wünsche werden mit auf den Weg gegeben, ein letztes Mal gewunken und das war´s dann. Augenscheinlich. Doch genau diese flüchtigen, beiläufigen Begegnungen waren am aufschlussreichsten. Die Wahrheit liegt wohl im Detail.

Auf einer Busfahrt in Bolivien beispielsweise, hatte ich einige Stunden eine Bolivianerin als Sitznachbarin, die nicht viel älter als 50 Jahre zu sein schien. Aber Indígenas hatten für mein ungeschultes, europäisches Auge zumeist ohnehin nur drei Alter: Kind, Erwachsener und Greis. Meine Sitznachbarin, in ihrer traditionellen und sehr einfachen Kleidung, erzählte nun also klar und munter von ihrer Familie: acht Kinder, 26 Enkel und sogar einen Urenkel gäbe es bereits. Und alle seien mehr oder weniger wohl geraten, sicherlich, der eine oder andere mache mal Sorgen, aber im Großen und Ganzen ginge es schon einigermaßen. Glück hätten ihre Kinder gehabt. Alle hätten gut geheiratet, keiner der Männer würde über das Maß trinken oder prügeln, die Ehefrauen seien alle sehr sittsam und sauber. Eine gute Familie. Arm ja, aber eine anständige Familie! Nun sei sie auf dem Weg nach Oruro, um ihren Sohn und seine Familie zu besuchen, die sie seit acht Jahren nicht gesehen hätte, des Geldes wegen. Das kleine Stückchen Land in den Bergen werfe eben nur das Nötigste ab und manchmal noch nicht einmal das. Ich drücke mein Bedauern darüber aus, dass sie aufgrund finanzieller Schwierigkeiten ihre Familie so wenig sehen kann. Nun bin ich an der Reihe und erzähle von meiner Familie und meinem Leben in Deutschland: dass ich keine Geschwister habe, dass meine Eltern sich getrennt haben und dass beide wieder geheiratet haben. Für mich, ist dies eine Familiengeschichte von vielen, nichts besonderes, für mein Gegenüber jedoch, ein Anlass zu herzlicher Anteilnahme: „Du Arme!“, ruft sie bestürzt. „Da möchte ich aber nicht mit Dir tauschen!“
Es entstand eine Pause, während der ich dachte, dass ich auch nicht mit ihr tauschen möchte. Und einvernehmlich schweigend freuten wir uns unseres bescheidenen Glücks.

In Puerto Wiliams wohnten Susann und ich – äußerst gemütlich – in einem kleinen Zimmer mit Bad und Kaminofen, das uns ein chilenisches Ehepaar vermietete. Im ersten Stock des Hauses, betrieben die beiden ein „Restaurant“ mit Meerblick, das ich eher als einen Aufenthaltsraum mit eingeschränkter Bewirtung bezeichnet hätte. Spezialität des Hauses: Bieber (etwas knochig und mit leichtem Wildgeschmack). Der Mann war früher beim Militär und nun, nach der Pensionierung, versuchen sie sich durch den Tourismus über Wasser zu halten. In den siebziger Jahren, so erzählte er, hätte er sieben Monate bei der Bundeswehr in Kiel zu Fortbildungszwecken verbracht. Unser rauer, aber sehr herzlicher Vermieter, der uns morgens im täglichen Wechsel mit seiner Frau ganz rührend fürsorglich das Frühstück servierte, konnte noch genau einen deutschen Satz, der in jeder Lebenslage hilfreich sein muss. Er lautete: „Sing!, mein Freund!“

Die Vermieter des Praktikantenhauses in La Paz, waren so arm, dass sie monatelang in ihrem Ferienhaus in den subtropischen Yungas verbringen mussten. Verständlich, dass sie mit uns um jeden Boliviano feilschen mussten, uns die Mietpreise falsch berechneten, Wechselgeld nicht wiedergaben und gerne mal am Samstagmorgen um 8Uhr wild gegen die Zimmertüren hämmerten, um die Miete einzutreiben. Johnny, der Junge, der als „Mädchen für alles“ gnädigerweise in einer Art Loch unter unserem Trakt wohnen durfte, wurde eigentlich mehr wie ein Sklave gehalten. Unsere Vermieterin beschwerte sich gerne darüber, wie undankbar er doch sei, nach allem, was sie für ihn getan hätte! Auch kleineren Reklamationen unsererseits, dass es zum Beispiel nicht ein brauchbares Messer gäbe, wurden erst nach Drohungen mit kollektiven Auszug Beachtung geschenkt und die Messer mit dem Aufsehen eines Staatsaktes zum Schleifen gebracht. Doch eines schönen Sonntags, den wir alle außerhalb La Paz´ verbracht hatten, wendete sich das Blatt. Als wir ins Haus zurückkamen, fanden wir alle unsere Zimmer frisch gestrichen vor. Auf Abdeckplanen oder ein Ausräumen unserer Sachen hatte man jedoch verzichtet und dankenswerter Weise die Türen zu den Zimmern, in denen sich Pässe, Laptops und Kreditkarten befanden offen gelassen, damit die Dämpfe der Lackfarbe ausdünsten könnten. Unsere Empörung über diese Überrumpelungsaktion stieß auf Unverständnis. Anlaß der Verschönerungsaktionen war die Mitarbeiterin der deutschen Handelskammer, die sich zur jährlichen Inspektion angekündigt hatte. Im Rahmen der Konstruktion dieses potemkinschen Dorfes wurden wir auch alle acht zum Essen bei den Señores in ihrem feinen Repräsentierzimmer eingeladen. Das Essen selbst viel dafür dann umso bescheidener aus. Und dort saßen wir dann und speisten, tauschten Liebeswürdigkeiten aus und heuchelten Interesse. Doch diese Farce gab auch Gelegenheit unsere Vermieter ein wenig näher kennenzulernen, zum Beispiel, dass sie fünf Kinder haben, von denen zwei in den USA leben und dass alle ihre in Bolivien verbliebenen Enkelkinder auf eine deutsche Privatschule gehen. Als Florian und ich von unserem Aymarakurs erzählten berichteten sie, dass sie 15 Jahre lang eine Aymara als Haushälterin gehabt hätten. Eine echte Perle!
„Und?“ fragten wir nach. „Haben sie noch einige Wörter Aymara in Erinnerung?“
„Behalten?“ ist die ungläubige Reaktion. „Wir haben sie nie nach ihrer Sprache gefragt!“
Immerhin sind Aymara und zwei weitere indigene Sprachen neben Spanisch gleichberechtigte Amtssprachen in Bolivien und es gibt auch Bolivianer, die kein Spanisch sprechen.

Diese und noch viele weitere Begegnungen dieser Art bereicherten meine Reise und ließen mich Länder und Leute mehr und mehr verstehen. Doch sie alle hier aufzuzählen, würde eindeutig den Rahmen sprengen. Zum Schluss muss an dieser Stelle aber selbstverständlich noch einmal Gaby erwähnt werden, die Mutter aller Herbergsmütter, der am besten ein eigenes Buch gewidmet werden sollte. Doch für dieses Mal will ich es bei einem Bild von ihr, stellvertretend für alle guten Seelen, die meinen Weg kreuzten, belassen.

Samstag, 8. Juli 2006

Hurra, hurra...!

Geschrieben am 07. Juli 2006 in Santiago (Chile):

Die Kinder rennen gehetzt durch die Straßen Santiagos. Aus der Vogelperspektive sehen sie aus, wie eine dunkelblaue gallertartige Masse, die sich durch die beinahe menschen- und autoleere Innenstadt schiebt. Vorne aus dem Schwarm hört man Rufe und Arme staken hervor und fuchteln wild. Der Einzeller verändert seine Form und Richtung. Hinter ihm her jagt das kleine, mächtige Grün: Stiefel, Helme, Schlagstöcke, Schilde, Pistolen und Gasmasken. Es liegt nicht nur Panik in der Luft und die Stadt hält den Atem an.

Bis ins ferne, kleine Deutschland sind die Nachrichten von den Protesten der chilenischen Pinguine, wie hier die Schüler aufgrund ihrer Schuluniformen genannt werden, gedrungen. Und in der Tat war vor allem die Disziplin und Besonnenheit, mit der Schülern ihre Proteste organisierten, erstaunlich: Mehrere Wochen lang hielten die Pinguine ihre Schulen besetzt, die sie mit Stühlen und Tischen nach außen hin verbarrikadiert hatten. Jeder Schüler, der seine Schule betreten wollte musste sich ausweisen und wurde registriert. Alles, vom Koch- über den Putzdienst bis hin zur einheitlichen politischen Linie war bis ins kleinste Detail geregelt. Wurden Schulsprecher von Journalisten um Statements gebeten, so wiederholten die Jugendlichen durch die Bank weg die aktuellen Positionen der gewählten, nationalen Schülersprecher. Die Forderungen drehten um eine bessere Ausstattung der Schulen, kostenlose Fahrten in öffentlichen Verkehrsmitteln für Schüler und die Abschaffung der Gebühr für die obligatorischen Aufnahmetests der Universitäten.

Mit den Demonstrationen in den Straßen jedoch kamen die Steinewerfer und mit den Steinewerfern die Eskalation. Schon in den Außenbezirken Santiagos hinderten die Carabineros Schüler gewaltsam daran, ins Zentrum zu gelangen. Chilenische Polizisten sind alles andere als zimperlich und der Einsatz von Tränengas war massiv. Atmen, das ist in Santiago ja ohnehin so eine Sache. Doch während der Wochen der Demonstrationen wurden die täglichen Gänge zu einem regelrechten Großangriff auf die Atemwege und die entfesselte Riesenzwiebel verbrüderte sich mit der Käseglocke aus Staub und Abgasen über der Metropole. Die Augen tränen, die Nase juckt und auf der Haut brennt es wie Feuer. Taschentücher und Schirme waren der Verkaufsschlager der ambulanten Händler. In der unterirdischen Metro wurde gar per Lautsprecherdurchsage gebeten, die Fenster der Wagons zu schließen und noch nachts, wenn sich die Straßenschlachten schon längst gelegt hatten, blieb die Luft Gas geschwängert und hie und da tat das eine oder andere Pfützchen aus Kondensat sein Übriges. Wie erst mag es sein, wenn man direkt mit Tränengas beschossen wird? Wasserwerfer, Gas, schreiende Schüler, aggressive Polizisten und kein Durchkommen gehörten dieser Tage zu meinem Alltag, doch in den spannendsten Momenten hatte ich nie meine Kamera dabei.

Chiles Schüler lernen gerade „Demokratie“, eine gute und wichtige Unterrichtseinheit der Jugend einer Gesellschaft, von der sich noch vor 17 Jahren - bei freien Wahlen - unglaubliche 48% für das Regime Pinochets ausgesprochen haben. Wie in Bolivien auch, so ist die ungerechte Verteilung der Einkommen eines der Hauptprobleme. Chile belegt Rang zwölf auf der Hitliste der Länder mit ungleicher Einkommensverteilung (am ungerechtesten werden die Einkommen in Namibia [Platz 1] und am gleichmäßigsten in Dänemark [Platz 124] verteilt; Deutschland belegt Platz 110). Chiles Schüler wehren sich nicht nur gegen die gesellschaftlichen Probleme, die daraus resultieren (die Universitäten in Chile sind bis auf eine alle privat), sondern auch gegen das konstitutionelle Erbe der Militärregierung. Kurz bevor General Augusto Pinochet sein Amt niederlegte, erließ er ein Gesetz, das besagt, dass jede Änderung des Bildungssystems eine Verfassungsänderung darstellt. Und so ist es bis heute, soll beispielsweise beschlossen werden, dass der offizielle Unterrichtsbeginn eine halbe Stunde später sein soll, so muss dafür die chilenische Verfassung geändert werden.

Immerhin haben die Schüler einiges erreicht: Es wurde eine Kommission zur Reform des Bildungssystems eingesetzt, der Staat gibt mehr Stipendien für die Uni-Aufnahmetests aus und die Gültigkeit des Schüler-Tickets ist auch ausgeweitet worden. Die Schulen sind ordnungsgemäß übergeben worden, der Unterricht läuft weiter und das Leben in Santiago geht wieder seinen ungeregelten Gang.

Donnerstag, 29. Juni 2006

Atmen - muss man machen... kann man aber nicht!

Geschrieben am 29. Juni 2006 in Santiago (Chile):

Dies ist der Cerro San Cristóbal, aufgenommen von der Plaza Italia, im Herzen Santiagos, an einem wolkenlosen (!) Morgen mit außergewöhnlicher Smoggbelastung:




Und dies ist Cerro San Cristóbal, aufgenommen von der Plaza Italia, im Herzen Santiagos, an einem wolkenlosen Morgen mit durchschnittlicher Smoggbelastung:


Auch das Gelbe in dem Einschnitt zwischen den Bäumen ist keine Wolke, sondern die Inkarnation der zweitdreckigsten Luft der Welt (nach der von Mexiko Stadt). Zur Plaza Italia laufe ich von meiner Wohnung aus keine fünf Minuten und mit der Zuverlässigkeit der telefonischen Zeitansage ereilt mich an der Plaza Italia stets der erste Hustenanfall. Ein Gedanke, den ich bei diesen Gelegenheiten mit Vorliebe verdränge ist der, dass ich, wenn ich dort drüben auf dem Hügel stehe und auf die Plaza Italia sehe, sich unter mir ja dieselbe gelbe Suppe ausbreitet... Und überhaupt muss der Smogg für alle Wehwehchen herhalten: der ewige Husten, die verklebten Atemwege, das sich nie lösende Sputum, die schlechte, brennende Haut, die andauernde Abgeschlagenheit, die täglichen Kopfschmerzen, die tägliche Müdigkeit, die Gliederschmerzen, die Beinbrüche, die Tennisarme und das gesamte Unglück dieser Welt!

Allerdings muss ich die Chilenen, auch wenn der Umweltschutz in diesem Land noch in den Kinderschuhen steckt, diesmal in den Schutz nehmen. Die Autos haben zwar nur in der Ausnahme einen Katalysator, dennoch produzieren fünf Millionen Santiaguinos sicherlich nicht so viel Dreck wie beispeilsweise 20 Millionen Buenairesensis. Und doch hat Buenos Aires (wie der Name schon sagt) kein erhebliches Smoggproblem. Santiago liegt unglücklicherweise, wie Mexiko Stadt auch, in einem Talkessel und außerdem ist die Landschaft an sich schon staubig und das Klima extrem trocken. Und wer hat Schuld an dem Ganzen? Ein spanischer Eroberer (natürlich!): Im 16. Jhd. fühlte sich Pedro de Valdivia an diesem Fleckchen Erde zwischen den Hügeln und den zwei Flüssen so sehr an seine Heimat in der Extremadura erinnert, dass er befand, dies sei der rechte Ort, um eine Siedlung zu gründen, soweit die Legende. In Wahrheit befand sich wohl ein Mapuchedorf in der Nähe und Santiago wurde als Bastion zur Eroberung des Landes gegründet. Der Smogg von heute könnte sicherlich verringert werden, wenn die Regierung dementsprechend handeln würde und die Industrie beispielsweise zum Einbau von Filtern verpflichten würde.

Doch auch ohne Frischluft habe ich meinen Spaß!

Dienstag, 30. Mai 2006

Chile ist Weltmeister!!

Geschrieben am 29. Mai 2006 in Santiago (Chile)

"Aber Chile hat sich doch gar nicht qualifiziert!", werden sich jetzt die Fußball-Kenner echaufieren. Aber ich rede ja auch nicht von der Fussi-WM, sondern von der Tischfußball-WM (Taca Taca, wie es auf Chilenisch so schön lautmalerisch heißt), hier im Goethe-Institut. An drei hochkonzentrierten, bierlastigen Wettkampftagen spielten so illustre Teams wie "Botschaft des Vatikans", "Botschaft der USA", "Los Húsares de la muerte" (zu dt.: "Die Husaren des Todes") oder "Los Individualistas" um den Titel des Taca-Taca-Weltmeisters:

"Los Practicantes" bei ihrer legänderen Niederlage (7:99) gegen die Filmstudenten von "Arcis Team No. 3":
Mein Chef mit Spielern:
Und der Freßkorb mit deutschen Produkten geht an... Team "Chile"!

„Es ist alles in Ordnung, solange ich nicht krank werde.“

Geschrieben am 29. Mai 2006 in Santiago (Chile):

„Es ist alles in Ordnung solange ich nicht kranke werde“, mein Mitbewohner Rodrigo redet über seine finanzielle Situation. „Wenn ich ernsthaft krank würde, wäre das mein Ruin“. Rodrigo ist 32 Jahre alt, hat studiert, arbeitet volltags in einer Softwarefirma mit guter Auftragslage und ist zum Glück gesund.

Mit 40,3Grad Körpertemperatur betrete ich das städtische Krankenhaus des chilenischen Küstenortes Pichilemu. Das Gebäude ist weder alt noch neu, ein verwinkelter Bungalow, der für mein Verständnis von "Krankenhaus" zu klein ist. Schon von außen dringt der Verfall aus jeder Ritze. Die Glastür zur Rezeption hat einen großen Sprung. Sie scheppert und wackelt verdächtig, der Linoleumboden quietscht unter meinen Turnschuhen. Die Schwester hinter dem Fensterchen mit dem viel zu kleinen Sprechloch ist nett und gibt sich sichtlich Mühe meine vom Fieber verwaschenen, auf Spanischen gestammelten Erklärungen über meinen Gesundheitszustand zu verstehen. Ich bin allein. Vom Fensterrahmen plättert der Lack ab. Da es schon kurz nach Mitternacht ist, muß ich nicht lange warten, bis ich in das Behandlungszimmer gebeten werde. Ich trete durch eine Tür, die aussieht wie die Tür zu meinem ersten Klassenzimmer und befinde mich in einem OP-Saal aus der Zeit des zweiten Weltkrieges. Auf der Bahre liegt ein bärtiger Offizier, Kopfschuß, alles ist voller Blut und es riecht nach Penner und billigem Fusel. Die Schwester schiebt mich an dem Verwundeten vorbei, durch einen Vorhang in das dahinterliegende, kleine Behandlungszimmer. Ohne ein Wort zu verlieren macht sie sich an meinem Kragen zu schaffen und schiebt mir ein Fieberthermometer unter die Achsel. „Ay!“, ruft sie aus, als sie es abliest. Das hätte ich ihr auch gleich sagen können. Ich zeige ihr die 10cm messende Schwellung an meinem Oberschenkel. Ein Mückenstich hat sich, wohl aufgrund der massiven Gabe von Antibiotika, die mir wegen meiner Zahnoperation in Bolivien zu Teil wurde, entzündet. Ich werde örtlich betäubt und der Arzt schneidet die Beule auf, um den Eiter herauszulassen. Zum Abschluß bekomme ich eine Kanüle gelegt, durch die mir 240ml Wasser-Antibiotika-Lösung injiziert werden und man weist mich an, morgens um sechs zur nächsten Behandlung wiederzukommen. Mehr als geschafft gehe ich zurück ins Hostal, das zum Glück gleich um die Ecke liegt.
Fünf Tage lang werde ich mich alle sechs Stunden – morgens um sechs, mittags um zwölf, abends um sechs und nachts um zwölf – im Krankenhaus von Pichilemu einfinden. Bei jedem Besuch werden mir 240ml Wasser-Antibiotika-Lösung in die Vene gejagt. Einmal täglich drückt mir eine hoffnungslos überarbeitete Schwester unter meinen Schmerzensschreien die Wunde aus wie einen überdimensionalen Pickel und reinigt sie. Nach einigen Tagen, als der Stich fast nicht mehr eitert, hat sich unter der Haut ein Hohlraum gebildet, in den sich locker zwei Tupfer schieben lassen. Die Schwestern arbeiten mit flinker, geübter Hand und vorbildlich steril. Dennoch muß ich jedes Mal mit Ekel- und Beklemmungsgefühlen kämpfen. Die weißen Laken auf den Behandlungsliegen sind gewaschen und gestärkt, aber alte, nun gelbliche Blutflecken sind dennoch zu sehen. Ein Laken hat einen großen Riss. Die metallenen Liegen, Tische, Stühle und Infusionsständer rosten. Eine Deckenplatte löst sich, die Wände sind fleckig und das Neonlicht flackert. Es ist nicht dreckig, es wird nicht geschlampt, es ist nur alles abgenutzt, verfallen. Tagsüber stapeln sich auf den Gängen die Menschen: Vor den Behandlungstüren wartet eine Schwangerschaft neben Zahnschmerzen, ein Beinbruch neben einer Diabetis, ein Durchfall neben einem Surfunfall, eine Routineuntersuchung neben einem entzündeten Mückenstich. Wenn die Tür ins Allerheiligste einmal passiert ist, heißt dies nicht, dass das Warten dann ein Ende hat. In den drei durch Vorhänge getrennten Behandlungszimmer stehen vier Liegen, die immer besetzt sind. Hinter dem Behandlungszimmer befindet sich ein weiterer Flur, auf dem weitere Kranke auf weiteren Liegen warten. Einmal, es war kein Platz mehr für mich, setzt man mich kurz entschlossen in den privaten Rollstuhl einer alten Dame. Manchmal spiele ich mit dem Gedanken, mir morgens beim Sechs-Uhr-Termin einfach eine der Liegen mit einem Handtuch zu reservieren. Die kurze Zeit zwischen den Behandlungen verbringe ich alleine im Hostalzimmer, liegend, damit sich die Entzündung nicht im Körper verteilt. Aus ist der Surfspaß!

Das chilenische Gesundheitssystem besteht aus einem privaten und einem öffentlichen Sektor. Die öffentliche Krankenversicherung teilt seine Mitglieder in fünf verschiedene Gruppen anhand ihres Einkommens ein. Wer gar nichts hat, der muß auch weder Beiträge noch Eigenleistungen zahlen. „Aber warum, wenn doch die Gesundheitsversorgung für die Armen gratis ist“, frage ich meinen Tandem-Partner, der Arzt ist, „haben so viele von Susanns und Claudias Patienten keine Krücken, keine Rollstühle, keine Pflegebetten, keine Windeln, obwohl sie sie doch so offensichtlich bräuchten?“.
„Der Staat hat eben zu wenig Geld“, so die einfache Antwort.

Susann und Claudia arbeiten bei der deutschen Stiftung „Cristo Vive“ in einer Armensiedlung als Krankenschwester/Ergotherapeutin und Physiotherapeutin. Nach einem halben Jahr ebenso konsequenter wie belastender Arbeit, machen ihre Patienten gute Fortschritte: Ein Mann mit Schlaganfall könnte jetzt wieder gehen, aber er wird nicht gehen, da es von der öffentlichen Krankenversicherung keinen adäquaten Gehstock für ihn gibt. Seine Angehörigen müssten wieder und wieder zum Amt fahren und um diesen Stock betteln. Und selbst wenn die Familie, die in der ärmlichsten Hütte lebt, die ich in diesem Land je gesehen habe, das Geld für die Busfahrten hätte (ca. 50Cent pro Fahrt), wäre es nicht sicher, dass sie auch einen Stock bekämen. In einer ähnlichen Situation befindet sich noch ein weiterer Schlaganfallpatient, der nun durch die kontinuierlich trainierten Übungen wieder sitzen kann. Eine Fähigkeit, die ihm ohne Rollstuhl aber nur bedingt hilfreich ist. „Cristo Vive“, die keine staatliche Unterstützung erhält und sich ausschließlich durch Spenden finanziert, kann ebenfalls weder einen Rollstuhl noch Krücke erübrigen. Als meine Mutter, die Chile nicht nur erfüllt mit Bildern von bewegenden Landschaften, sondern auch erfüllt mit Bildern von Armut, verlassen hat, von der Situation der beiden Schlaganfallpatienten erfährt, erklärt sie sich bereit den Rollstuhl und den Vierpunktstock zu spenden. In einem kleinen Santitätshaus im feinen Stadtteil Las Condes erstehen Claudia und ich einen Stock (30 Euro) und einen Rollstuhl in einfachster Ausführung (165 Euro), die wir mit öffentlichen Verkehrmitteln einmal durch die Stadt zu ihren neuen Besitzern transportieren. Mit vereinten Kräften träufelen wir so einen Tropfen auf den heißen Stein der öffentlichen Gesundheitsversorgung in Chile.

Rodrigo ist privatversichert. „Gesundheit“ ist der zweitertragreichste Wirtschaftszweig im neoliberalen Chile. Letzten Monat hat er einen Brief von seiner Krankenversicherung bekommen, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass man ihm für seinen jetzigen Beitrag leider nicht mehr dieselben Leistungen anbieten könne, man lade ihn jedoch ein, sich über Alternativen zu informieren. Im Krankheitsfall müsste er immer auch einen Eigenanteil leisten. Hinzu kommt, dass „Lohnfortzahlung im Krankheitsfall“ in Chile ein Arbeitnehmertraum ist. Eine ernsthafte Krankheit wäre Rodrigos finanzieller Ruin.

Jetzt wo ich wieder in Santiago bin, habe ich keine Sorgen mehr krank zu werden. Meine private Auslandskrankenversicherung, die mich als Studentin 35Euro monatlich kostet, übernimmt 100% der Behandlungskosten und das selbst in den besten Privatkliniken, in denen Ambientalmusik durch die marmorbefließten Flure schallt.

Mittwoch, 26. April 2006

Fast die Arche

Geschrieben am 24. April 2006 in Santiago (Chile):

Dieser Eintrag ist eine kleine Reminiszenz an all die Tiere, die ich mich aufmachte zu sehen und nicht sah und eine kleine nachträgliche Rechtfertigung für die Mühen, die ich dafür auf mich nahm. Stellvertretend für die Schwänzer des Touristenprogramms, zeige ich hier einige Bilder derjenigen Tiere, die sich - mal mehr, mal weniger pflichtbewusst - für ein Foto zur Verfügung hielten.

Von so seltenen und manchmal auch gleichzeitig scheuen oder gar nachtaktiven Gesellen, wie den Maras, einer putzigen Mischung aus Reh und Hase, den Pudús, dem kleinsten Wild der Welt, dem fast ausgestorbenen Huemul oder dem berüchtigten Puma, will ich ja gar nicht erst anfangen. Die folgenden Geschichten gelten derjenigen Fauna, die „normalerweise“ zu sehen ist, doch das Glück ihr zu begegnen mir einfach nicht vergönnt war.

Die erste Erfahrung dieser Art ereignete sich im bolivianischen Dschungel. Höhepunkt der organisierten dreitägigen Tour durch die dichte Pampa zwischen den zahlreichen Seitenarmen des Amazonas sollte, sie sein, die Anakonda! Sie ist eine der größten Würgeschlangen der Welt und kann bis zu neun Meter lang und 150 Kilo schwer werden. Ihre Beute, Säugetiere und Vögel, erdrückt oder zerquetscht sie mit ihrem Körperchen so zu appetitlichen Häppchen. Sie zu finden zogen wir also begleitet von einem bolivianischen Führer los. Über 30 Grad, strömender Regen und eine nicht allzu atmungsaktive Regenbekleidung machten den über zweistündigen Marsch durch mannshohes Gras, überschwemmte Wiesen und Sumpflandschaften nicht weniger abenteuerlich. Irgendwann, schon unzählige Male hätte ich meine Gummistiefel um ein Haar nicht mehr aus dem Morast ziehen können, erreichten wir eine Lagune, die die ultimative Heimstätte der Anakonda sein sollte. Schon auf dem Weg stach unser Guide mit seinem riesigen Wanderstock eifrig in die üppige Vegetation, um Anakonda aufzustöbern. Aber, so erklärte er uns, bei Regen verkröche sie sich. Dennoch ließ er uns am Ufer der Lagune zurück und verschwand mitsamt seiner Kleidung in selbiger, um Anakoda abzuholen. Wir warteten und warteten, eine halbe Stunde verstrich, eine Stunde wurde voll und wir warteten. Langsam begann ich mich ein wenig zu langweilen und verließ unseren Rastplatz, um zur Abwechslung einen Blick hinter die Büsche, die uns umgaben, zu werfen. Doch was mich dort erwartete ließ mir den Atem stocken: Alligatorhäute und –gerippe, daneben eine menschliche Hose und Schuhe. Alligatorfrühstück? Menschenfrühstück? Aus einer gewissen Distanz vom Boot aus, konnte ich mit unseren sauropsiden Freunden ja ganz gut, aber so unmittelbar… und was, wenn jetzt einer direkt vor mir auftauchen würde? Das wäre mir ganz sicher nicht recht gewesen! Rasch setzte ich die anderen über meinen Fund in Kenntnis und eine gewisse Aufregung befiehl unsere ansonsten sehr entspannte, kleine Reisegruppe. Und wo blieb überhaupt der Guide? Mittlerweile waren schon zwei Stunden ohne ein Zeichen von ihm oder der Anakonda verstrichen. Tendenzen zur Meuterei zeigten sich; der Portugiese wollte den Rückweg alleine finden, wenn unser Führer in einer Viertelstunde nicht wieder auftauchen würde. Immerhin sei ja auch Zeit für das Mittagessen. Ich fand das gar keine gute Idee und zeigte mich entschlossen zu bleiben wo ich war, bis der Guide wieder auftauchen würde. Wahrscheinlich, so mutmaßte ich, ist er auf eine Chicha in einem Eingeborenendörfchen eingekehrt und macht mit dem Wirt gerade derbe Touristenwitze. Meine These fand allgemeinen Zuspruch und so warteten wir dann auch nicht mehr lange, bis der Bolivianer aus dem Dickicht, das den See umgab wieder auftauchte – ohne Anakonda versteht sich.

Zwar befand ich mich nicht auf Rachefeldzug für ein fehlendes Bein, aber sicherlich stand ich Kapitän Ahab in Punkto „Eifer bei der Walsuche“ in nichts nach. Einen halben Tag lang stand ich beharrlich an der Steilküste der Peninsula Valdés im Süden Argentiniens und spähte und spähte. Neben mir befand sich sogar ein Posten, indem professionelle Walbeobachter jeden Tag den ganzen, lieben, langen Tag stehen und spähen und spähen. Denn immerhin war im März, als ich dort war, Hochsaison für Orkas. Am Unterstand der Professionellen war auf einer Tafel verzeichnet, wann und in welcher Entfernung die Killerwale das letzte Mal gesichtet worden waren: Gestern, 8.15Uhr, sehr, sehr weit draußen. Ah ja. Der Tag war wunderbar, ein strahlender Himmel, unten am Strand sonnten sich die Seelöwen und –hunde, ein Piche (heißt das im Deutschen vielleicht Gürteltier? Bitte um Zuschriften!) lief ein wenig verwirrt über den Parkplatz, Möwen kreischten, das Meer war von einem unfassbar intensiven Blau und eine leichte Briese wehte von Westen. Was hätten nur ein paar Orkas am Horizont, aber gerne auch dichter, die Szenerie vervollständigt! Voll Sehnsucht ließ ich Stunde um Stunde meinen Blick über das Meer schweifen, um nicht irgendwo eine Schwanzflosse oder auch nur ein Fontänchen zu entdecken. Aber irgendwann hieß es dann doch „Abfahrt!“ und auch das Paar, das schon seit elf Tagen kam, um die Säuger zu sehen, musste wieder einmal unverrichteter Dinge mit dem Bus in die eine Stunde entfernte, einzige Siedlung der Halbinsel zurück fahren. Tja, das hat man nun davon: da entlässt man Willy und seine feinen Freunde einmal in die Freiheit und hast du nicht gesehen, hast du sie nicht mehr gesehen!
Dejá-Vu in Chile: tapfer erklimmt eine andere kleine Reisegruppe die Steilküste auf der Insel Chiloé. So kurz vor Ostern ist der Wind herbstlich, die See rau und der Himmel trägt einheitsgrau. Unten am Strand wohnen ein paar Fischer in Hütten. Sie leben hauptsächlich davon, nach Meeresfrüchten zu tauchen und verdienen sich etwas hinzu, indem sie Touristen in Nussschälchen zu einer nahe gelegenen Pinguinkolonie schippern. Auf Chiloé scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Als wir den ein wenig großspurig als „Aussichtspunkt“ titulierten Acker am Rande der Klippen erreicht hatten, begann wir zu spähen und zu spähen und zu spähen, mit Fernglas, ohne Fernglas und dann wieder mit Fernglas. Nichts, während uns der Fischer mit Geschichten über die chilotische Mythologie und seinen Alltag unterhält und ich mir denke, dass die Wale wohl schlichtweg von Millalobo, dem Herrscher des Meeres in einen anderen Teil des Archipels befohlen worden sind, um die Wasserwelt gegen die mächtige Herrscherin des Landes Ténten-Vilu zu verteidigen.

Meister Bockert hingegen, der in Deutschland, gehegt, gepflegt und geschützt wird, gilt in anderen Teilen der Erde, wie der Insel Navarino, als Plage, die alle Vegetation kurz und klein nagt, die ihm zwischen seine aparten Schneidezähne kommt. Der aus Nordamerika „eingeschleppte“ Castor Canadensis fand auf den wasser- und baumreichen Inseln Feuerlands so etwas wie ein Schlaraffenland vor, das er nun großräumig und hemmungslos verwohnt. Wer denkt, dass es da nicht weiter schwer sein wird, einen dieser Gesellen aufzutreiben, der hat weit gefehlt! Durch einen ungewollten Zufall, kam es, dass ich mich allein in die insulare Wildnis aufmachte, um auf Bibersuche zu gehen. Und Wildnis, das meint am vermeintlichen Ende der Welt, eine echte, taubmachende Wildnis. Kein kultivierter Wald, kein Parkplatz, keine Spaziergänger und der vom Regen überschwemmte, teilweise unpassierbare Weg endete irgendwann im Nichts und das Nichts wurde undurchdringlich. Mir war unheimlich, denn wer weiß, was hier außer dem Biber nicht noch alles herum kraucht und dann bestünde da noch die Möglichkeit, dass sich der Biber in diesem Paradies unbemerkt wieder zu seinem bärgroßen, urzeitlichen Vorgänger zurück evolutioniert hat. Zudem regnete es in Strömen und das Pfützenwasser kroch mir die Hosenbeine hoch. Nur ab und zu erhellten einige Sonnenstrahlen, von Regenbögen begleitet, das grüne Dickicht. Tröstlicherweise begleitete mich auf meiner Wanderung ein Hund der Militärstation, die ich am Ortsausgang von Puerto Williams passiert hatte. Ohne ihn hätte ich wohl schon nach einigen hundert Metern wieder Kehrt gemacht. Doch der Hund und ich, wir sprachen uns gegenseitig Mut zu und so drangen wir immer weiter gen Heimstätte des Nagers vor, ohne überhaupt zu wissen, wo diese Lagune genau lag. Nach gut anderthalb Stunden erreichte ich eine Anhöhe, von der aus ich sah, dass sich direkt unter mir ein Gewässer befand, das ich ohne Zweifel als Fluss identifizierte. Da mir weder das Erreichen des Ufers, noch das Überwinden des Flusses als ohne weiteres möglich erschien, schoss ich noch ein paar Fotos und machte mich auf den Rückweg. Meine Abenteuerlust war an dieser Stelle ohnehin schon voll und ganz befriedigt worden. Am Abend dann zeigte ich unserem Wirt die Fotos des Tages und er versicherte mir, dass mein „Fluss“ sehr wohl die Biberlagune gewesen sei, nicht ohne seine Verwunderung darüber zum Ausdruck zu bringen, dass ich bis dorthin alleine gegangen war. Doch selbst wenn ich gewusst hätte, dass der „Fluss“ die Lagune gewesen war, so hätte ich es bestimmt nicht über mein Herz gebracht, an diesem verlassenen Ort auszuharren, um auf die Verwandtschaft von Ratten zu warten. Aber, auch ohne Biber hatte ich meinen Spaß!

Bis zum heutigen Tage ungeklärt bleibt, ob ich einen Kondor gesehen habe oder „nur“ eine andere Geierart. Ebenfalls offen bleibt die Albatrosfrage. Ich bin mir sicher einen Albatros gesehen zu haben, während Susann der Überzeugung ist, es hätte sich „nur“ um eine sehr, sehr große Möwe gehandelt. Auch das Argument, dass eine echte Deern auf Reisen wohl eine Möwe von einem Albatros unterscheiden kann, hat sie bislang noch nicht überzeugen können. Und dann wären da noch die Tiere, die ich zwar gesehen habe, aber die sich beim besten Willen nicht fotografieren lassen wollten. Doch das ist wieder eine andere Geschichte…

Dienstag, 18. April 2006

Von einer die auszog...

Geschrieben am 17. April 2006 in Santiago (Chile):

Die Frage „Was machst du eigentlich hier in Südamerika?“ oder „Was machst Du eigentlich da drüben in Südamerika?“ veranlasst mich, an dieser Stelle noch einmal die Rahmenhandlung zu erzählen:

Am 1. September 2005 stieg ich zusammen mit meinem ASA-Projektpartner Florian in Frankfurt in ein Flugzeug, das uns mit einem Zwischenstop in Atlanta nach Lima/Peru brachte. Die nächsten beiden Wochen reisten wir gemeinsam über Ayacucho, Cuzco, Machu Pichu und Puno am Titicacasee nach La Paz (s. Tagebucheinträge bis einschließlich „3,8 km dichter am Himmel“).

In La Paz arbeiteten Florian und ich bei einer Nichtregierungsorganisation, die hauptsächlich politische Aufklärungsarbeit im Bereich Gesundheit und Menschenrechte leistet. Für dieses dreimonatige Projekt sind wir von der deutschen Organisation ASA ausgesucht worden und hatten uns auf den beiden je einwöchigen Vorbereitungsseminaren kennen gelernt. In La Paz entwickelten wir Informationsmaterial, organisierten und leiteten einen Workshop mit Jugendlichen und beteiligten uns an der laufenden Arbeit der bolivianischen Organisation. Eine Zahnoperation mit vorhergegangener, wochenlanger Wurzelbehandlung ließ mich auch ganz persönliche Erfahrungen mit dem bolivianischen Gesundheitssystem sammeln. Allerdings gilt hier ebenso: mit Geld ist die beste Behandlung, die gleichzeitig die beste Zahnbehandlung war, die mir je zuteil kam, zu haben. Trotz Arbeit und Krankheit blieb mir noch ausreichend Zeit um Land und Leute zu erkunden (s. Einträge „Se busca departamento“, „Alltag“, „Bolivia“ und „Workshop“).

Mitte Dezember dann, war meine Zeit in Bolivien beendet und auch Florian flog zurück nach Deutschland. Über die Grenze mit Peru reiste ich nun, zunächst allein, nach Chile ein. Ein paar Tage verbrachte ich in Arica, um dann eine Woche lang in Iquique zum Surfen hängen zu bleiben. In Windeseile besuchte ich noch die Kupfermiene Cuquicamata und das Dörfchen San Pedro in der Atacamawüste, bevor mich eine 24-stündige Busfahrt kurz vor Weihnachten in die versmogte 5-Millionen-Stadt Santiago de Chile brachte. Hier wohnte ich insgesamt zwei Monate bei Susann und Claudia. Die beiden arbeiten ebenfalls in einem ASA-Projekt; als Physio- und Ergotherapeutinnen in einem Armenviertel, in dem wir auch lebten. Diese zwei Monate in der „Fünften Schönen“ waren unterbrochen von Sylvester in Valparaiso und meinem Aufenthalt in dem Küstenort Pichilemu, wo ich aufgrund einer Entzündung im Oberschenkel, die ich mir nach einer knappen Woche zugezogen hatte, alle sechs Stunden im örtlichen Krankenhaus ambulant behandelt werden musste. Als ich nach beinahe drei Wochen immer noch medizinischer Betreuung bedürftig war (aber nicht mehr ganz so häufig) und klar war, dass ich zunächst meine Reise nicht würde fortsetzen können, kehrte ich zu Susann, Claudia und zu unserer chilenischen Vermieterin Gabi nach Santiago zurück. Von dort aus brach ich am 10. Februar, gemeinsam mit Susann, zu unserer über vierwöchigen Reise nach Patagonien auf. Unsere Stationen: Puerto Montt, mit dem Schiff durch die chilenischen Fjorde nach Puerto Natales, Punta Arenas, Ushuaia, Puerto Williams, Calafate, Penisula Valdés, Esquel, Bariloche, Mendoza und zurück nach Santiago. Dort angekommen war und bin ich nach wie vor, sehr zufrieden damit, mich der Sesshaftigkeit hinzugeben, die die letzten zwei Wochen nur von einem Abstecher in die Seenregion mit meiner Mutter, unterbrochen wurde. Jetzt lebe ich in einer sehr netten WG in einem guten und zentral gelegenen Viertel, zusammen mit einer finnischen Studentin und einem chilenischen Informatiker, der mir gemeinsam mit seinem Bruder, einem Architekten, geduldig alle meine Fragen zu Chile beantwortet (siehe alle übrigen und noch folgenden Einträge).

Am 1. Mai dann, wird mein zweimonatiges Praktikum im Goethe-Institut beginnen. Dort werde ich sowohl in der Pressestelle, als auch in der Programmabteilung, die den Austausch von Künstlern organisiert, mitarbeiten. Am 10. Juli 2006 werde ich dann voraussichtlich wieder in Hamburg sein. So wie ich es jetzt beurteile, mit mindestens anderthalb weinenden Augen.

P.S.: Alle älteren Einträge sind über die Leiste "Previous Post" auf der rechten Seite zu erreichen. Um einen noch älteren Eintrag, als den letzten angezeigten zu sehen, einfach auf diesen letzten klicken und die vorangegangenen erscheinen. Da ich mit meiner Seite umgezogen bin, um das Layout zu wechseln, stimmt die zeitliche Einordnung im Archiv leider nicht mehr.

Dienstag, 4. April 2006

Das Ende der Welt

Geschrieben am 20. März 2005 in Santiago (Chile):

Das Ende der Welt, darüber ist man sich einig, das ist Kap Hoorn. Die mystische Anziehungskraft der Insel ist so groß, dass auf einer Party inmitten der patagonischen Fjorde, als sich zu fortgeschrittener Stunde herumgesprochen hatte, dass es mein erklärtes Ziel sei dorthin zu gelangen, mit einmal alle den gleichen Plan hegten: Kap Hoorn, der Inselzipfel am Ende der Welt, auf ihm nichts weiter als ein Monument und ein Leuchtturm, bewohnt von einer dreiköpfigen Familie, in ihrem Heim ein Postämtchen, die Postkarte vom Ende der Welt, geheimnisumwobener Felsen und Schiffsfriedhof, Ringkampfarena der südlichen Ozeane, angefeuert von den Seelen zahlloser Seefahrer, die dort ihr Leben ließen, bis zum Südpol nichts als Meer und ewiges Eis, eines der großen Abenteuer dieser Erde und mein Traum! Nun, am nächsten Morgen freilich, reduzierte sich die Zahl der abenteuerlustigen Seefahrer dann wieder auf drei Personen, nämlich Susann, Corinne die schweizerische Weltreisende, die sich uns anschloss und mich. Aber – wie gelangt man eigentlich ans Ende der Welt? Sicher war nur, dass es keine Butterfahrt und auch kein gemächlicher Tagesausflug werden würde, denn in den meisten Reiseführern findet der Weg zum Kap keine Erwähnung und wenn doch, so liest man lediglich: „Ab Ushuaia gibt es die Möglichkeit eine Yacht zu chartern." Eine Yacht chartern? Das geht doch bestimmt auch günstiger, dachten wir uns und machten uns auf nach Ushuaia.

Ushuaia ist ein luxuriöses, malerisches Touristenstädtchen, so etwas wie das Kampen Argentiniens, wo wir uns sogleich auf die Suche begaben, zunächst ins Reisebüro. Kap Hoorn? Ja sicher gäbe es da etwas. Eine viertägige Kreuzfahrt auf der „Stella Maris" zu einem ganz günstigen Lastminute-Preis. Unsere Gesichter strahlten hoffnungsfroh um die Wette, jedoch nur, um sogleich einzufrieren: umgerechnet nur 1000,- Euro pro Person. Tja, danke schön und auf Wiedersehen! Unserer nächster Versuch dann war die Hafenmole, an der einige größere und kleinere Ausflugsboote lagen. Kap Hoorn? Nein, bis dahin sei man ja mindestens drei Tage unterwegs! Aber weiter unten am Yachthafen, dort könnten wir nachfragen. Also doch der Yachthafen, ich fühlte mich eindeutig underdressed, ordnete mein Haar und scherzte noch, dass ich für einen Besuch im Yachthafen aber erst mal meine sportlich-feminine Linie hervorzaubern müsste. Wenn ich wüsste! Doch erst einmal es ging zum Yachthafen, wo wir auf einen netten Herren trafen, der ein paar Telefonate führte und uns dann freudestrahlend seinen Erfolg verkündete: für nur 1200,- Euro pro Person könnten wir bereits übermorgen auf einen einwöchigen Segeltörn nach Kap Hoorn gehen. Und gäbe es da auch noch eine günstigere Variante? Nein, davon wüsste er nichts, aber auf dem Steg dort sollten wir es doch mal probieren. Und tatsächlich, ein junger und ganz bodenständig wirkender Yachtbesitzer gab uns zwei Telefonnummern: Lolo und Luis sollten wir anrufen, die würden in den nächsten Tagen zum Kap auslaufen. Voll Euphorie rannten wir ins nächste Callcenter!Lolos Nummer gewählt, Lolo antwortet, Lolo unser Anliegen vorgetragen.
„1500,- U.S. Dollar pro Person", sagte Lolo. Macht nichts, blieb ja immer noch Luis.
Und was sagte der?
„1500,- U.S.Dollar pro Person."
„Unmöglich", sagte ich. „Wir sind doch Studenten, kennen Sie nicht noch eine günstigere Möglichkeit?"
„Naja", erwiederte Luis. „In welchem Hotel wohnst Du denn, wir treffen uns dann dort."
Ich verstehe nicht ganz: „Und dann wissen Sie mehr oder wie?"
„Ja genau", schnurrte Luis. „Dann sehen wir mal welche günstigen Möglichkeiten es so gibt."
Moment, stutzte ich, günstige Möglichkeit im Hotel? Nein danke! Abenteuerlust muss auch Grenzen haben.

Ein wenig angewidert und ernüchtert verlassen wir am nächsten Morgen Ushuaia, um im benachbarten, chilenischen Puerto Williams noch einmal unser Glück zu suchen. Puerto Williams ist ein kleines, unschuldiges 2300 Seelen-Dörfchen auf der Insel Navarino, mit höchstwahrscheinlich nicht mehr als 15-20 Touristen. Keine Reisebüros, keine Hafenmole, kein Yachthafen und außer ein paar Häuschen, die mit gemütlichen Holzöfen beheizt werden, drei winzigen Tante-Emma-Läden und einer Militärbasis nichts weiter als unberührter Natur: Berge, Wälder, Flüsse, Lagunen, Wasserfälle, der Bieber und eine gespenstische Stille. Jeder Spaziergang außerhalb des Örtchens gerät zum Abenteuer. Die Menschen sind offen und scheinen sich über jede Abwechslung zu freuen. Wer nicht beim Militär ist, der lebt hier vom Fischfang. Fischerboote! Die Erfüllung meines Traums vom romantischen Seemannsabenteuer zum Ende der Welt schien zum Greifen nah zu sein. Kap Hoorn…ja…im Januar, wenn sich das Fischen nicht lohnt, da würde man immer mal wieder einen Fischer finden, der bereit sei zum Kap zu fahren. Aber jetzt im Februar seien alle auf See, aussichtslos.

So ist für auf dieser Reise das Ende der Welt in Puerto Williams, der südlichsten Stadt der Welt, erreicht und diese Rolle hat es bestens erfüllt. Aber mein Traum vom Kap Hoorn, der bleibt!