Sonntag, 2. April 2006

Bolivia

Geschrieben am 16. November 2005 in La Paz (Bolivien):

Irgendwo im öden, aber für durchreisende Touristen wunderschönen und unwirklichen Grenzland zu Chile treffe ich in der Kneipe eines scheinbar gottverlassenen Dorfes einen sturzbetrunkenen Bauern.
„Wovon lebst Du?", frage ich ihn, nachdem wir uns miteinander bekannt gemacht haben.
„Quinua, was anderes wächst hier nicht", ist die erste einer Kette von ernüchternden Antworten.
„Und das Vieh?" frage ich weiter.
„Schwierig, schwierig. Im Sommer ist alles so trocken, dass es nichts zu Fressen findet und im Winter erfriert es."
Ich schweige und nippe ein wenig an meinem Bier.
„Wirst Du Evo wählen?", frage ich schließlich.

Evo Morales und seiner Partei Movimiento Al Socialismo – MAS (Bewegung zum Sozialismus) werden für die im Dezember stattfindenden Wahlen gute Chancen prognostiziert. Evo Morales ist - wie Hugo Chávez – ein linker Populist. Am Kühlschrank unserer WG klebt ein Aufkleber, auf dem Evo grüßend mit roter Jacke und Barett abgebildet ist. Darüber prangt der Solgan: Venezuela no está sóla (Venezuela ist nicht allein), der mich immer an das kubanische Revolutionslied Cuba no está sóla denken lässt. Die Sozialismus-Rhetorik der MAS ist Wasser auf die erbosten Mühlen eines Großteils der Bolivianer: Nacionalizar gas – Expulsar las transnacionales (Gas nationalisieren – Transnationale (Firmen) rausschmeißen). Bolivien ist im Grunde genommen nicht arm; die Gasvorkommen beispielsweise sind reichlich. Aber Bolivien ist hoch verschuldet und seine Schuldner, wie die Weltbank und der Internationale Währungsfond (IWF), erlassen dem Land einen Teil der Schulden nur unter der Bedingung, dass die Rechte an Öffentlichen Gütern, z.B. Gas und Wasser, an private, d.h. ausländische Großkonzerne, abgegeben werden. Augenblicklich ist die alltägliche Versorgung mit Gas in Bolivien nicht gesichert, sodass Straßenblockaden mit leeren Gasflaschen in La Paz, aber mehr noch in El Alto (La Paz´ „Armenhaus" und Sattelitenstadt) keine Besonderheit mehr sind. Wie kann ein Land zur gleichen Zeit über so viel und so wenig Gas verfügen?

„Ich werde gar nicht wählen!", erwidert mein Gegenüber erbost.
„Aber warum? Wählen ist doch wichtig!", ich bin erstaunt.
„Hier in dieser Gegend wird niemand zur Wahl gehen, niemand!".
„Aber warum?" frage ich erneut und mit noch mehr Verwunderung.
„Cochabamba! Sucre! La Paz! Santa Cruz!", die Emotionen kochen hoch. „Da kümmern sich die Kandidaten drum! Aber um uns, um unsere Gegend, da schert sich niemand drum!".
Am nächsten Tag bestätigt mir unser Reiseleiter, der ebenfalls aus der Region stammt, diese Tatsache.

Es ist heiß, um die 40 Grad und die Luft so staubig, dass das Atmen zur Qual wird. Meine Gummistiefel stapfen durch Pfützen auf dem unebenen Boden. Gebückt und keuchend krauche ich durch die klaustrophobischen Gänge der beinahe 500 Jahre alten Silbermine von Potosí, die immer noch in Betrieb ist. Weite Strecken auf dem Weg hinab kommen wir nur in der Hocke oder auf dem Bauch robbend voran. Der dreistündige Ausflug für Touristen gerät zur Grenzerfahrung. Wer wird hier nur arbeiten können?
In einem der großen Gänge – ca. zwei Meter breit und aufrechtes Stehen ist möglich – fängt unser Führer auf einmal an zu brüllen: „Rapido! Rapido!!" (Schnell! Schnell!!) und deutet uns, zu einer Nische vorzueilen und uns gegen die bröckelige Wand zu drücken. Von vorne hören wir ein Poltern immer näher kommen. Aus dem fernen Dunkel tauchen, Berggeistern gleich, drei Minenarbeiter auf, die einen vollen Karren mit Mineralien schwerfällig vorwärts schieben. Nur um haaresbreite kann sich der Wagen an uns vorbei drängen.
Nach einer weiteren halben Stunde, in der alle damit kämpfen ihre eigenen Körper schwerfaellig vorwärts zu schieben, erreichen wir die dritte Ebene und damit den tiefsten Punkt unserer Tour. In einem verhältnismäßig geräumigen Hohlraum treffen wir auf eine vierköpfige Arbeitergruppe und machen Rast mit den Mineros: Sie bieten uns Koka-Blätter und 96%igen Schnaps an. Ablehnen kommt nicht in Frage. Wir haben Geschenke mitgebracht: überzuckerte Brause („Löscht zwar nicht den Durst, aber sie mögen es wegen des Zuckers. Zucker ist Energie", kommentiert unser Minenführer), Koka und Sprengsätze, die man ohne weiteres in den Lebensmittelgeschäften um den Hügel von Potosí kaufen kann. Einer der Minenarbeiter erzählt, dass er bereits seit 30 Jahren in der Mine arbeitet und 42 Jahre alt ist. Die jüngsten Mineros beginnen schon mit zehn Jahren zu arbeiten, obwohl das offizielle Alter für eine Anstellung in der Mine ist 18 ist. Jeder Mann, egal welchen Alters könne jederzeit anfangen, wie uns berichtet wird. Machísmo sei weit verbreitet und niemals habe eine Frau in der Mine gearbeitet oder dies auch nur gewollt. Normalerweise dauere eine Schicht acht bis neun Stunden, aber da die nächste Woche wegen eines Feiertages frei sei, würden sie nun schon seit drei Tagen unter Tage sein. Wie der Verdienst sei? Mal so, mal so.
Alle Mineralien, die eine Gruppe findet ist ihr Eigentum und wird unter den Gruppenmitgliedern geteilt. Kein Fund, kein Verdienst.

Um mich herum erstreckt sich ein weites Nichts aus Sand und Stein. Hinter mir ragt eine Felswand, Attraktion der kargen Landschaft, in die Höhe. Ich sitze ein wenig erhöht auf einem Felsvorsprung. Der Teller auf meinen Knien beherbergt bolivianisches Standardessen: Huhn, Reis und Kartoffeln (oh bitte nicht schon wieder!). Neben mir lauert ein Viscachy, eine Mischung aus Hase und Chinchilla, auf einen kleinen Snack. Der Tourleiter erläutert: „Gibst du dem Viscachy Brot, es wird essen, gibst Du ihm Schokolade, es wird essen, gibst du ihm Fleisch, es wird essen, gibst du ihm Kaugummi, es wird kauen, gibst Du ihm eine Zigarette, es wird rauchen…". Ein Stückchen weiter rechts versuchen einige lebensmüde Franzosen ihre alte, klapprige Ente wieder flott zu bekommen, mit der sie wie die Bekloppten über die Schotterpisten brettern. Während der Fahrt zeigt uns unser Fahrer im Halbstundentakt Spuren und Krater im Sand und lacht schadenfroh: „Schon wieder eine Ente verunglückt!". Vor mir spielt der kleine Sohn der Köchin Fußball. Ob er wohl schon in die Schule gehen müsste?

Die Aufgabe unseres Projektes ist es, Informationsmaterial für die weniger gebildete Bevölkerung zu den Millenniumszielen der Vereinten Nationen zu entwickeln. Zur Jahrtausendwende haben die Vereinten Nationen acht Entwicklungsziele verabschiedet, die bis 2015 erreicht sein sollen. Wie wichtig es ist, diese Ziele insbesondere in Bolivien, Lateinamerikas ärmsten Land, zu verwirklichen, zeigen einige schnöde Zahlen:
1. Ziel: Bis 2015 Hunger und extreme Armut (Einkommen ist geringer als 1 US Dollar pro Tag) halbieren. In Bolivien sind 63% der Bevölkerung von Armut betroffen.
2. Ziel: Bis 2015 sollen alle Kinder eine primäre Schulbildung (bis ca. 6. Klasse) erhalten. In Bolivien sind 20% der Bevölkerung Analphabeten.
3. Ziel: Die Gleichheit der Geschlechter und die Selbständigkeit der Frau erreichen. In Bolivien sind 18,46% der Parlamentsabgeordneten Frauen.
4. Ziel: Die Kindersterblichkeit der Kinder unter fünf Jahren bis 2015 um zwei Drittel reduzieren. In Bolivien sterben 75 von 1000 Kindern ehe sie ihr fünftes Lebensjahr erreicht haben.
5. Ziel: Die Müttersterblichkeit bis 2015 um drei Viertel halbieren. In Bolivien erhalten 51% der Mütter irgendeine Form (schul)medizinische Hilfe bei der Geburt.
6. Ziel: HIV/AIDS, Malaria, Tuberkulose und andere vermeidbare Krankheiten eindämmen. Bolivien zählt 1517 registrierte Aidsfälle und 14.910 Malariakranke. Jährlich werden um die 7500 neue Fälle von Tuberkulose bekannt.
7. Ziel: Die Nachhaltigkeit der Umwelt erhalten, z.B. die Zahl der Menschen ohne Zugang zu sicherem Trinkwasser und grundlegender Sanitärversorgung halbieren. In Bolivien leben ca. 37% der Bevölkerung ohne sicheres Trinkwasser und sanitäre Anlagen.
8. Ziel: Aufbau einer weltweiten Entwicklungspartnerschaft, z.B. ein gerechtes und nicht diskriminierendes Handels- und Finanzsystem entwickeln. Die Vereinten Nationen rechnen damit, dass man zur Erreichung der Millenniumsziele jährlich 195 Mrd. US Dollar bräuchte. Jährlich werden weltweit insgesamt 900 Mrd. US Dollar für die Militäretats ausgeben.

Lagunen lassen die Wüste auf über 4000m Höhe leben. Einige sind grün vom Kupfer, andere knallig pink durch Mikroorganismen und auf anderen liegt eine weiße Schicht aus Salpeter. Unzählige Flamingos verstärken den Eindruck vor einer Fata Morgana zu stehen. Der Himmel ist blau und die Wüste schweigt beharrlich. Bolivien scheint nicht arm.