Samstag, 8. Juli 2006

Hurra, hurra...!

Geschrieben am 07. Juli 2006 in Santiago (Chile):

Die Kinder rennen gehetzt durch die Straßen Santiagos. Aus der Vogelperspektive sehen sie aus, wie eine dunkelblaue gallertartige Masse, die sich durch die beinahe menschen- und autoleere Innenstadt schiebt. Vorne aus dem Schwarm hört man Rufe und Arme staken hervor und fuchteln wild. Der Einzeller verändert seine Form und Richtung. Hinter ihm her jagt das kleine, mächtige Grün: Stiefel, Helme, Schlagstöcke, Schilde, Pistolen und Gasmasken. Es liegt nicht nur Panik in der Luft und die Stadt hält den Atem an.

Bis ins ferne, kleine Deutschland sind die Nachrichten von den Protesten der chilenischen Pinguine, wie hier die Schüler aufgrund ihrer Schuluniformen genannt werden, gedrungen. Und in der Tat war vor allem die Disziplin und Besonnenheit, mit der Schülern ihre Proteste organisierten, erstaunlich: Mehrere Wochen lang hielten die Pinguine ihre Schulen besetzt, die sie mit Stühlen und Tischen nach außen hin verbarrikadiert hatten. Jeder Schüler, der seine Schule betreten wollte musste sich ausweisen und wurde registriert. Alles, vom Koch- über den Putzdienst bis hin zur einheitlichen politischen Linie war bis ins kleinste Detail geregelt. Wurden Schulsprecher von Journalisten um Statements gebeten, so wiederholten die Jugendlichen durch die Bank weg die aktuellen Positionen der gewählten, nationalen Schülersprecher. Die Forderungen drehten um eine bessere Ausstattung der Schulen, kostenlose Fahrten in öffentlichen Verkehrsmitteln für Schüler und die Abschaffung der Gebühr für die obligatorischen Aufnahmetests der Universitäten.

Mit den Demonstrationen in den Straßen jedoch kamen die Steinewerfer und mit den Steinewerfern die Eskalation. Schon in den Außenbezirken Santiagos hinderten die Carabineros Schüler gewaltsam daran, ins Zentrum zu gelangen. Chilenische Polizisten sind alles andere als zimperlich und der Einsatz von Tränengas war massiv. Atmen, das ist in Santiago ja ohnehin so eine Sache. Doch während der Wochen der Demonstrationen wurden die täglichen Gänge zu einem regelrechten Großangriff auf die Atemwege und die entfesselte Riesenzwiebel verbrüderte sich mit der Käseglocke aus Staub und Abgasen über der Metropole. Die Augen tränen, die Nase juckt und auf der Haut brennt es wie Feuer. Taschentücher und Schirme waren der Verkaufsschlager der ambulanten Händler. In der unterirdischen Metro wurde gar per Lautsprecherdurchsage gebeten, die Fenster der Wagons zu schließen und noch nachts, wenn sich die Straßenschlachten schon längst gelegt hatten, blieb die Luft Gas geschwängert und hie und da tat das eine oder andere Pfützchen aus Kondensat sein Übriges. Wie erst mag es sein, wenn man direkt mit Tränengas beschossen wird? Wasserwerfer, Gas, schreiende Schüler, aggressive Polizisten und kein Durchkommen gehörten dieser Tage zu meinem Alltag, doch in den spannendsten Momenten hatte ich nie meine Kamera dabei.

Chiles Schüler lernen gerade „Demokratie“, eine gute und wichtige Unterrichtseinheit der Jugend einer Gesellschaft, von der sich noch vor 17 Jahren - bei freien Wahlen - unglaubliche 48% für das Regime Pinochets ausgesprochen haben. Wie in Bolivien auch, so ist die ungerechte Verteilung der Einkommen eines der Hauptprobleme. Chile belegt Rang zwölf auf der Hitliste der Länder mit ungleicher Einkommensverteilung (am ungerechtesten werden die Einkommen in Namibia [Platz 1] und am gleichmäßigsten in Dänemark [Platz 124] verteilt; Deutschland belegt Platz 110). Chiles Schüler wehren sich nicht nur gegen die gesellschaftlichen Probleme, die daraus resultieren (die Universitäten in Chile sind bis auf eine alle privat), sondern auch gegen das konstitutionelle Erbe der Militärregierung. Kurz bevor General Augusto Pinochet sein Amt niederlegte, erließ er ein Gesetz, das besagt, dass jede Änderung des Bildungssystems eine Verfassungsänderung darstellt. Und so ist es bis heute, soll beispielsweise beschlossen werden, dass der offizielle Unterrichtsbeginn eine halbe Stunde später sein soll, so muss dafür die chilenische Verfassung geändert werden.

Immerhin haben die Schüler einiges erreicht: Es wurde eine Kommission zur Reform des Bildungssystems eingesetzt, der Staat gibt mehr Stipendien für die Uni-Aufnahmetests aus und die Gültigkeit des Schüler-Tickets ist auch ausgeweitet worden. Die Schulen sind ordnungsgemäß übergeben worden, der Unterricht läuft weiter und das Leben in Santiago geht wieder seinen ungeregelten Gang.