Sonntag, 8. Juli 2007

Die Moral von der Geschicht´

Geschrieben am 8. Juli 2007 in Hamburg (Deutschland):

Nun bin seit bereits unglaublichen 10 Monaten wieder in Deutschland. Wo ist nur die Zeit geblieben? Einen Umzug, eine Magisterarbeit, drei Mitbewohner, einen Geburtstag und einen deutschen Winter später ist aus gegebenem Anlass nun der Augenblick, mein Jahr in Lateinamerika zu resümieren.

Was soll ich sagen? Deutschland hat wirklich seine Vorteile. Gut, das Wetter gehört nicht dazu, aber der Alltag ist grüner, die Stadtluft sauberer, die Familie näher, das Essen leckerer, die Armut geringer und die Dinge, die ich brauche, einfacherer zugänglich. Trotzdem kann ich nicht leugnen, dass mich das Heim- oder Fernweh (das kommt auf den Blickwinkel an) doch dann und wann packt, und dann sehne ich mich meistens nach den Menschen, die uns Nordeuropäern in zumindest vier Dingen einiges voraus habe: Gelassenheit, Lebensfreude, Herzlichkeit und Offenheit.

Die beinahe schon sprichwörtliche Gelassenheit der Latinos („Mañana!“) hat wohl schon so manchen Gringo zur Verzweiflung gebracht. Doch man muss sich einlassen auf das veränderte Tempo, nicht umsonst sind hierzulande Ratgeber, die „Entschleunigung“ predigen ein Verkaufsrenner. Denn siehe da, auch wenn nicht immer alles sofort und 100%ig funktioniert, so geht die Welt davon nicht unter. Wenn der Busfahrer auf einer 14-stündigen Busfahrt durch einen Ort kommt, in dem einer seiner Kumpel eine Party schmeißt, dann bleibt er dort ein Stündchen und alle kommen eben etwas später an. Na und? Zeit ist nicht Geld, sondern Lebensqualität. Brechen die Holzkähne, die als Fähre über einen Flussarm dienen, beinahe zusammen, dann werden eben die Passagiere auf ein sichereres Bötchen geladen und getrennt vom Bus übergesetzt. Wo ist das Problem? Das Leben läuft auch jenseits von sklavischen Zeitplänen und TÜV-Bestimmungen. Das Loslassen von europäischen Maßstäben hat einen entschiedenen Vorteil: die Erwartungen sinken auf ein Minimum und das erhöht die Zufriedenheit. Wer nichts erwartet kann auch nicht enttäuscht werden. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Deutschen ein Volk der Meckerer, Beschwerer und Nörgler sind. Warum eigentlich? Ich finde nicht, dass wir großartig Grund haben, uns zu beschweren.
Obwohl – Geld macht nicht glücklich, das ist bekannt. An materiellem mangelt es uns nicht, aber vielleicht etwas an Lebensfreude. Mich hat es immer wieder fasziniert, wie selbst diejenigen, die in meinen europäischen Augen aufgrund ihrer Armut sehr unglücklich sein müssten, so viel Lebensfreude ausstrahlen konnten. Ich denke, dass wer nicht viel hat, versucht aus dem, was ihm bleibt das Beste herauszuholen. Wer sich keine Gedanken machen braucht, welches Navigationsgerät er sich anschafft, der hat Zeit, um vielleicht einen Plausch mit seinem Nachbarn zu halten. Und da Materielles nicht glücklich macht, ist der Klöner vielleicht zufriedener als der Autofahrer. Wer hart arbeitet und kaum Freizeit hat, der genießt diese vielleicht intensiver. Vielleicht ist der Tänzer zufriedener als der Shopper. Müssten wir weniger besitzen, um glücklicher zu sein?
Ebenfalls beeindruckt hat mich die offene Herzlichkeit, mit der man mir immer wieder begegnet ist. Sicher kann ich nicht immer unterscheiden, inwieweit die mir entgegengebrachte Sympathie mir oder meiner Kaufkraft galt. Hinzu kommt auch, dass ich als Weiße und Europäerin eine Exotin war, der man oft mit einer freundlichen Neugier begegnet ist, die man für eine Landsmännin verständlicherweise nicht erübrigt hätte. Gepaart war die Neugier mit einigen Vorurteilen, die mir immer wieder begegneten, wie zum Beispiel dem, dass ich superreich wäre. Für viele Menschen war die Tatsache, dass ich es mir leisten konnte in einem Restaurant zu essen gleichbedeutend damit, dass ich mir auch ohne weiteres für 500 Dollar einen Flug auf die Osterinseln leisten könnte. Dennoch – ich meine auch beobachtet zu haben, dass insgesamt die Menschen in Lateinamerika auch untereinander herzlicher miteinander umgehen. Dies merkt man insbesondere im Familiären. Die Familie hat dort – so wie ich es oft empfunden habe – einen für uns manchmal kaum noch nachzuempfindenden Stellenwert. Familienmitglieder kommen immer an erster Stelle und die Sorge um sie kommt oft einer Selbstaufgabe gleich. Kinder und Mütter werden uneingeschränkt geliebt und gelobt. Ich glaube, persönliche Kritik an den eigenen Kindern oder der eigenen Mutter, die über erzieherische Ermahnungen wie Tischmanieren etc. hinausgehen sind weitestgehend unbekannt. Einerseits habe ich diesen sehr liebevollen Umgang miteinander als sehr schön empfunden, allerdings war er mir an anderen Stellen auch oft zu unreflektiert und unkritisch. Und auch ich als Fremde kam mehr als einmal in den Genuss einfach aufgenommen zu werden und für eine begrenzte Zeit einfach dazu zugehören, ohne dass ich irgendetwas leisten oder mich sonst wie beweisen musste. Wahrscheinlich habe ich mich wegen dieser akzeptierenden Herzlichkeit in dem ganzen Jahr kaum einsam gefühlt.
Mit jemandem ins Gespräch zu kommen war nie schwer. Mir erscheinen „die Latinos“ wesentlich offener als wir Nordeuropäer. Wo man zusammen kommt, sei es in der Kneipe oder im Wartesaal eines Busbahnhofes, unterhält man sich wesentlich schneller mit Fremden, als hier zu Lande. Mehrfach wurde ich Zeugin, wie sich aus einfachen Small Talks erhitzte Diskussionen entfachten, in die sich immer mehr und mehr bis dahin unbeteiligte Fremde einmischten. Die Dynamiken waren überwältigend und für mich gänzlich neu.

Wie schön wäre es ein wenig mehr Gelassenheit, Lebensfreude, Herzlichkeit und Offenheit nach Europa tragen zu können. Aber letztlich bin ich auch „nur“ eine distanzierte, verhaltene aber auch zuverlässige und treue europäische Seele, die geprägt wird, durch das was sie gerade umgibt. So ist das wohl.

Tja, und nun habe ich ihn doch noch geschrieben, den Artikel über die generalisierenden Vergleiche, gegen den ich mich immer gewehrt habe.