Montag, 8. Dezember 2008

Der Geisteswissenschaftler, das Mammut und die Keule

Geschrieben am 12. April 2008 in Sehlendorf (Deutschland):

Auch die „Generation Praktikum“ wird irgendwann erwachsen. Und dann?
Bis an die Zähne mit Magister-Titel und einem vor Praktika heiß gelaufenen Lebenslauf bewaffnet ziehen wir Geisteswissenschaftler nun also los, um das Mammut der Postmoderne zu erlegen, den heiligen Gral unser eigen nennen zu können, unsere einzige Sehnsucht endlich zu erfüllen: Es, das sagenumwobene Volontariat!
Jeder kennt jemanden, der – angeblich - eines absolviert, aber mit eigenen Augen und in freier Wildbahn hat es noch niemand lebend gesehen...

"Ich hätte auch Mathematik studieren sollen!“, steuere ich zu einer Runde Bier und kollektiven Gejammers über die Zukunftschancen für junge, engagierte, hoch motivierte und qualifizierte Geistes- und Sozialwissenschaftler bei.
„Und“, kommt der übliche Einwand „was würdest Du dann damit machen?“
„Versicherung!“, antworte ich wie aus der Pistole geschossen.
Allgemeine Heiterkeit.
Ich kann den Anlass für diese gesteigerte Ausgelassenheit nicht verstehen. Immerhin hätte ich in einer Versicherung ein gutes Einkommen und ein bequemes Leben mit Gleitzeit, voller betrieblicher Absicherung, bezahltem Urlaub, 13. Monatsgehalt. Vielleicht sogar Kinderbetreuung? Geschäftsreisen? Ich gerate ins Schwärmen.
„Und dann willst Du bis zur Rente also in einem Büro der Allianz sitzen und Kalkulationen anstellen?“, wird meinem unverständig fragenden Gesicht entgegen gehalten.
Ach so. Nee, natürlich nicht. Jetzt verstehe ich wo der Haken an der Sache ist und kann mir bei dem Gedanken daran, wie ich mit Rechnen oder gar Logik meinen Lebensunterhalt bestreiten soll, ein Grinsen auch nicht verkneifen. Mathe ist eh doof.
Und so bleibt auch mir nach dem erfolgreichen Abschluss eines geistes- und sozialwissenschaftlichen Studiums nichts weiter übrig, als mich ebenfalls auf Volontariatsjagd zu begeben. Die Konkurrenz schläft nicht und nur der Stärkste überlebt. Da heißt es also die Keule schwingen und sich mit Gebrüll ins Schlachtgetümmel werfen!

Auf der Leipziger Buchmesse schwingt meine Freundin Ann-Kathrin – ihres Zeichens junge und aufstrebende Geisteswissenschaftlerin – ihre Keule. Das literarische Schlachtengetümmel ist durchsetzt mit allerlei zivilen Raritäten: Herden an Schulklassen werden von euphorisierten Lehrern durch die Hallen getrieben, eine Spanisch-Dolmetscherin betreibt Zwei-Kanal-Kommunikation. Jungliteraten erotisieren den weiblichen Teil eines Deutsch-LKs aus der Provinz mit ihren Erzählungen aus dem hamburgischen Prekariatsmilieu. Gewalt, Tristesse, Drogen, soziale Abgründe, präpubertäre Perversionen, gescheiterte Lebensläufe. Das ist so urban, so echt, so intensiv, so-!
Eine Gruppe um die Satire-Zeitschrift „Eulenspiegel“ hat ein Kinderpappspielhaus aufgebaut und macht – warum auch immer – einen Riesenwirbel darum. Pappdach auf, Punk rein. Pappdach zu. Punk schaut aus dem Fenster. Pappdach auf, Punk raus. Laptop an. Pappdach zu. Punk rein. Ein Kamerateam der ARD filmt das Spektakel. Wahrscheinlich ist es lustig. Weiter hinten flanieren mit jeder Pore ihres Daseins Aufmerksamkeit einfordernd Manga-Fans in befremdlichen (werde ich etwa alt?) Kostümierungen: „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein!“.
Und zwischen all diesen Gestalten, das Mammut klar anvisiert, schwingt Ann-Kathrin nun ihre Keule. Gemeine Zungen würden sagen, sie ginge Klinken putzen. Mit der Geisteswissenschaftlern eigenen Beharrlichkeit und Unerschrockenheit, denn man ist es gewohnt, dass es eigentlich niemand ernsthaft interessiert, was man da betreibt, spult Ann-Kathrin den immer gleichen Spruch ab, der mit wissenschaftlicher Zuverlässigkeit in immer dem selben Dialog mündet:
„Guten Tag, mein Name ist Ann-Kathrin Schröder, ich bin Studentin. Nach dem Examen möchte ich gerne ein Volontariat in einem Verlag absolvieren und wollte mal fragen, ob das bei Ihnen möglich ist und ab wann Sie wieder Plätze frei hätten.“
„Ja, das geht. In welcher Sparte möchten Sie das Volontariat denn absolvieren?“
„Im Lektorat.“
„Ah ja, Lektorat… Ja, aber da sind alle Plätze bis Sommer 2024 vergeben.“
So oder so ähnlich. Dann gibt es meistens noch eine Visitenkarte mit dem Namen einer Ansprechpartnerin in die Hand gedrückt, dazu einen Bonsche, einen Button oder einen Aufkleber. Danke schön und auf Wiedersehen, während ich in bester Sherlock-Holmes-Manier auf das Namensschild des Verlagsmitarbeiters schiele und für Ann-Kathrin die Referenzpersonalien aufnehme.

„… und beim NDR würde ich aber zwischen 1300 und 1400 Euro verdienen“, referiere ich über die Vor- und Nachteile der einzelnen Volontariate. NDR, das ist zwar bei mehreren hundert Bewerbungen auf 18 Volontariatsstellen jährlich ein wenig größenwahnsinnig, aber irgendwer muss diese Plätze ja bekommen, warum also nicht ich? Noch bin ich optimistisch.
„Oh! Naja, das ist natürlich wenig. Aber danach verdient man dann ja ziemlich gut, oder?“, Stefan – Phillips, Gleitzeit, dreizehntes Monatsgehalt, bezahlter Urlaub, volle betriebliche Absicherung - hat irgendwas von diesen Techniksachen studiert, die ich mir nie merken, geschweige denn auseinander halten kann. Irgendetwas was von mir – wahrscheinlich fälschlich – in die Schublade mit der Aufschrift „Ingenieur“ gesteckt wurde. Und Stefan hat da was falsch verstanden. Einstein lässt grüßen.
1300 bis 1400 Euro für ein Volontariat war kein Nachteil, sondern ein absoluter Vorteil, denn das hieße, dass ich mich allein von der Vollzeitausbildung finanzieren könnte und nicht noch abends oder an den Wochenenden jobben müsste. Volontariate, bei denen man 500 oder 600 Euro monatlich verdient, sind auch bei namhaften Verlagen und Sendern keine Seltenheit.

Noch eher zaghaft schwinge nun auch ich meine Keule. Ich und mein erstes Assessment-Center, der rbb, der NDR Berlin-Brandenburgs, hatte geladen! Unter ebenfalls hunderten Bewerbern habe ich mich gemeinsam mit 31 überwiegend Mitstreiterinnen, für die letzte Runde im Kampf um den Mammutstoßzahn durchsetzten können.
Diesen Erfolg habe ich nicht etwa meinem Fleiß, meinem Talent oder meinen journalistischen Vorkenntnissen zu verdanken, sondern einzig und allein dem bedingungslosen Einsatz meiner Würde und meiner körperlichen Unversehrtheit. Für die Vorrunde musste unter anderem eine Reportage über Extremsport geschrieben werden. Und als echte angehende Reporterin habe ich das Angebot der beiden Parkoursportler, doch einfach gleich mitzumachen, direkt angenommen, ohne vorher an meine physische Prädisposition gedacht zu haben. Wenn schon, denn schon! Ergebnis des Experiments war ein spaßiger und ereignisreicher Nachmittag, den ich gekonnt mit einem Krankenhausbesuch wegen eines geprellten Fußes zu krönen wusste. Das Mammut forderte seinen Tribut!
Doch zurück nach Potsdam. Zwei Tage lang versuchten ich und meine Mitbewerber das Mammut zu bezwingen. Wie die Liliputaner Gulliver bekämpften, präsentierten, formulierten, schnitten, recherchierten und diskutierten wir auf das Gulliver-Mammut ein. Der Umgang war trotz der Konkurrenzsituation entspannt. Keiner wollte sich als unsoziales, karrieregeiles Ellenbogenarschloch outen. Und es gab nicht nur viele schöne Streicheleinheiten für das Ego, sondern ich habe dort auch die peinlichsten 45 Minuten meines Lebens durchlitten. Es war ein Ringen um Leben und Tod. Das Mammut oder ich. Hinterrücks hatte ich schon den Kopf des Mammuts erklommen und befand mich in einer einmaligen Ausgangsposition. Jetzt, mitten auf die Zwölf! Doch wo hatte ich nur meine Keule gelassen?
Gut, dies war meine erste Mammutjagd. Ich habe es zwar nicht erlegen können, aber ich war kurz davor. Mit anderen Worten: Nachrückerplatz und keiner der 16 tapfersten Krieger hat abgesagt.

Aber das nächste Mammut, das wird bestimmt meins!

Freitag, 11. Juli 2008

Holidaylandia

Geschrieben am 11. Juli 2008 in Hamburg (Deutschland):

Künstlich bescheint das Neonlicht die Inneneinrichtung des Nagelstudios nebst neongelb gekleideter Nageldesignerin. Ich bin in der Türkei.


Was mache ich hier eigentlich? Keine Ahnung. Das türkische Radio lässt eine gefühlvolle Coverversion von Come As You Are durch den abendlichen Salon erschallen:„…and I swear that I don´t have a gun…“. Das Lied passt nicht hier her und ich auch nicht.
Doch der Ort, an den ich nie gehen würde, muss erst noch erfunden werden und so sind meine alte Schulfreundin Larissa und ich den rudicarellesken Rufen unserer niederländischen Hotelgenossin gefolgt:


„Schaut määl meine neue Näigel. Soho schönn uund güünstich!“
Neue Nägel… warum nicht?


Extreme Lebenssituationen erfordern extreme Maßnahmen. So – und nur so – ist es zu erklären und zu rechtfertigen, dass ich mich eines Morgens in einer Ferienkonserve der TUI Fly wieder fand.


Mittwochmittag erkannt, dass nur ein spontaner Kurztrip in die Sonne meine missliche Lage retten kann und schon vierzehn Stunden später machten Larissa und ich uns auf den Weg zum Flughafen. Alles besser als zu Hause bleiben. Und wohin verschlägt es den kleinen Pauschaltouristen, wenn er die Koordinaten Schnell + Sonne + Günstig + Alles-andere-egal verbindet? Nach Alanya, dem orientalischen Schwippschwager El Arenals!


Alanya. Was soll ich sagen? Alanya ist kein kleiner malerischer Küstenort, wie der Beiname der Region „türkische Riviera“ fälschlicherweise vermuten lassen könnte, sondern eine Stadt mit knapp 400.000 Einwohnern. Eigentlich kein besonderer Ort, hätte nicht ein Stadtteil eine Art touristische Eigendynamik entwickelt, die kurz und knapp wie folgt charakterisiert werden kann: Erstens, man spricht Deutsch. Zweitens, es gibt von Gucci über Adidas bis hin zu Jack Wolfskin keine Marke die nicht gefälscht und in Alanyas Tourighetto feilgeboten würde. Und drittens, wer als Tourist in türkischer Lira statt in Euro zahlt, fällt auf.
Entsprechend, das Publikum. Gerade noch dem ALG II entflohen, verwirklichen sich Uschi, Kalle, Kevin und Chantalle einen Urlaubstraum mit internationalem Flair.


Quasi Jetset. Denn auf Türkei, da ist man wer! Da ist der stolze Euro so gefragt, dass man sich allen Luxus leisten kann. Wunschlos glücklich quasi: hier eine Handtasche von Prada, dort die Gucci-Brille und ein wenig später dann vielleicht noch einen neuen Puma-Dress.


Alles kein Problem! Und so sieht man auf den Straßen von Alanyas Holidaylandia mehr als einen Castrop-Rauxeler Paris-Hilton-Verschnitt durch die tristen Bettenburgenschluchten flanieren.

Doch wir finden auch ein anderes, türkisches Alanya: „Zu Fuß zur Burg hinauf laufen?“, man schaut uns an, als hätten wir gefragt, ob der Papst zum Islam konvertiert wäre. Nein, das sei viel zu weit. Zu weit? Können wir nicht finden und so stapfen wir los. In Flipflops durch die kleine Altstadt, den Hang hinauf zur Burg.


Der Weg ist nicht weit, sondern lohnenswert. Hierher kommen keine Touristen. Immer ein wundervoller Blick über die Bucht, alte windschiefe Häuser, die über den Klippen zu schweben scheinen. Ursprüngliche Idylle.


Ein leicht verrückter Belgier mit Migrationshintergrund befreit den steinigen Vorgarten seines Sommerhauses von Unkraut. Wir lernen Hamide kennen, die in ihrer Küche steht und kocht, Bauarbeiter und eine kurdische Familie, die ein Ausflugslokal für die einheimischen Familien betreibt. Der siebenjährige Sohn ist genant und fürchtet sich vor den beiden Fremden ohne Kopftuch.
Am Abend nimmt uns eine größere Gruppe von Angestellten unseres Hotels mit in eine schummerige Bar. Larissa und ich sind die einzigen Nichttürken dort. Eine Sängerin im kleinsten, hautengen Schwarzen singt, begleitet von einer kleinen Band, türkische Schlager.


Sie handeln von der Liebe, dem Meer oder Istanbul, wie uns unsere Rezeptionistin übersetzt. Alle singen mit, nur die beiden Christinnen nicht. Ich mag türkischen Schlager.
„Whoppa! Whoppa! Party-Hopper!“, erschlägt uns der grellbunte Diskotheken-Ballermann, als wir später aus der Bar wieder ins Freie treten und holt uns unsanft in die Realität zurück. Fast hätte ich gedacht, ich sei im Urlaub: „Whoppa, whoppa!“ und auf dem Rückweg schnell noch ein Paar Manolo Blahniks geshoppt.
Und was hilft gegen diesen Instanturlaubswahnsinn? Nur die Flucht nach vorne, unten! Mit dem Boot hinaus aufs Meer, Tauschschein machen.


Grandios! Ich habe ein neues Hobby und doch noch eine lohnenswerte Reise gemacht.
Und auf dem Meeresgrund, da liegen ein paar künstliche Fingernägel.


Montag, 24. März 2008

Generationenkonflikt

Fertiggestellt am 24. März 2008 in Hamburg (Deutschland):

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Donnerstag, 31. Januar 2008

Perspektivenwechsel

Geschrieben im Januar 2008 in Hamburg (Deutschland):

Wie lange stirbt ein Mensch? Ein Perspektivenwechsel aus der Agonie.


Plötzlich heult die Sirene laut auf. Zweimal. Feuer!
Doch noch im Klassenzimmer höre ich durch den Lärm, wie jemand den Schlüssel im Schloss herumdreht. In der Ferne fällt eine Tür zu und Schritte kommen durch den Korridor näher. Wir sind eingeschlossen. Ich verkrieche mich unter dem nächsten Tisch, presse die Hände vor die Augen und warte. Es wird still. Nach einer Weile berührt jemand vorsichtig meine Hand.
„Guten Morgen… guten Morgen, Frau Kuhn“, sagt eine leise Stimme zieht dabei das O ein wenig.
Kuhn, Kuhn, wer war denn noch mal Frau Kuhn? Kuhn. War das nicht dieser… der Tanztee im Frühling… die Pause… und am Abend… ich wollte sehen, was sie tun würden… das K.O.-Kriterium, ich hatte verloren… aber, das war doch… woanders… nein, später?
Ich blinzele. Schemenhaft flackert das Bild einer jungen Frau vor mir auf.
„Guten Morgen“, wiederholt die Stimme.
Guten Morgen. Ich öffne die Augen und blicke in ein Gesicht, das sich über mich beugt. Das Gesicht habe ich schon einmal gesehen. Seine Augen lächeln freundlich, fast liebevoll und ein wenig belustigt. Ich bin aufgewacht.
„Na, Frau Kuhn, haben Sie noch geschlafen?“, fragt mich die Deern, zu der das Gesicht gehört. Oh, ich habe geschlafen. Geträumt? Nein, aufgewacht. Ich liege im Bett und schaue mich um. Dies ist das Wohnzimmer meiner Eltern. Dort in der Ecke pocht die alte Standuhr. Warum wache ich im Wohnzimmer meiner Eltern auf? Von meinem Bett aus schaue ich direkt in den Garten. Das ist schön. So friedlich. Eine Krähe landet im Wipfel einer der Ulmen. Nach dem Frühstück werde ich Vater fragen, ob ich im Garten spielen darf. Ich will zu meinem Versteck gehen, am Abhang hinter der Laube: ein grüner Smaragd, Tannenzapfen, ein Klumpen Gold, der Farntunnel und eine Nachttischlampe neben dem Bett.
Das Bett ist ein Fremdkörper. Es passt nicht ins Wohnzimmer. Es ist neu, aus hellem, lackiertem Holz und steht mitten im Raum. Ich schwebe höher als gewöhnlich über dem Erdboden und nur die Gitterstäbe an den Bettkanten links und rechts von mir retten mich vor einem Sturz in die Tiefe. Mir wird schwindelig. Ich falle. Und falle immer weiter. Das Blut rauscht in meinen Ohren. Ich lasse los. Jetzt. Gleich geschafft. Gleich. Hinter mir höre ich das Knacken eines Kugelschreibers, mein Flug endet jetzt, ich höre auf zu fallen, auf zu fliegen und spüre wieder, wie mein Körper schwer auf der Matratze aufliegt.
Die Matratze. Sie lebt. In regelmäßigen Abständen schnaubt und knackt sie. Kurz darauf regt sie sich unter mir und eine kaum wahrnehmbare Welle, vom Fußende des Bettes kommend, fährt meine Beine, den Rücken und die Schultern hinauf bis zu meinem Kopf. Pffft, macht die Matratze. Knack, knack, pfffft. Ein Monstrum. Knack, knack pfffft.
Ich bin so müde. Trotzdem öffne ich wieder die Augen. Hier im Zimmer ist es ruhig. Sehr ruhig. Nur die Standuhr, dak, dak, dak, dak und das Knackknackpffft der Matratze. Regelmäßig. Ruhig. Ich bin schwach, mein Herz schlägt kaum mehr wahrnehmbar. Fast ist es, als sei mein Pulsschlag in halbem Tempo an das Schwingen der Zeit gekoppelt. Dak -- dak -- dak --
„So, Frau Kuhn, denn wüllt wi man.“
Die Deern. Ihr Tatendrang schlägt eine Schneise in das dichte, schwere Schweigen des Raumes, in dem ich bin. Um uns herum, auf dem Tisch neben dem Bett und am Fußende hat sie eine Menge Utensilien aufgebaut: Zwei Schüsseln, daneben je ein Handtuch, ein Müllbeutel, leer und bereits weit geöffnet, eine Rolle Klopapier, eine Box mit feuchtem Toilettenpapier, eine Tube mit Creme, eine riesige Windel, bereits auseinander gefaltet, eine weiße Stoffunterlage. Die Deern trägt dünne gelbliche Handschuhe.
„Ich nehme dann mal die Decke beiseite“, sagt sie und legt meine Zudecke auf den Sessel neben dem Bett. Es wird kalt und eine fäkale Geruchswoge entsteigt der flüchtigen Bettwärme.
„Nein!“, rufe ich und versuche das trügerische Gefühl der Decke auf meinen Beinen zu erreichen und greife ins Leere. Es stinkt.
„Das ist nicht angenehm, ich weiß, aber das muss jetzt kurz sein. Dauert auch nicht lange. Nur einmal sauber machen und dann ist dafür wieder alles schön frisch“, die Deern klingt ein wenig gequält, aber bestimmt.
Waschen. Richtig. Jeden Morgen kommen sie und waschen mich. Ich erinnere mich. Jeden Morgen. Krankenhaus? Nein, dies ist nicht das Krankenhaus. Meine Schwester. Dies ist das Haus meiner Schwester. Gleich wird sie die Treppe hinunter kommen, das Baby auf dem Arm. Sie legt die Lütte in den Kinderwagen und setzt sich zu mir auf die Terrasse. Es ist warm und wir reden. Wir drei. Dort. Sie ist nicht meine Freundin. Es hat nur den Anschein. Keinen Mucks. Sie nicht reizen, ihren Jagdinstinkt nicht wecken. Sie ist aus Marmor: hart, kalt, herzlos und von verführerisch blendender Oberflächlichkeit. Das Baby gluckst und da, die Uhr unserer Eltern. Das Wohnzimmer.
Das Kopfteil meines Bettes ist ein wenig hochgestellt und so schaue ich an mir hinab. Unten staken ein Paar kraftloser, deformierter Beine aus einer fliederfarbenen Plastikwindel. Meine Beine? Meine Windel? Alte Beine und Windel. Urin und Kot. Es stinkt. Ich, meine Beine, meine Windel, mein Urin, mein Kot. Ich liege im Bett. Ich bin alt, nass und zu müde um mich zu rühren. Ich bin nicht Herr meines Körpers. Aber der Wille ist da. Ich bin da.
Die Deern hat die Bettgittergrenze zwischen ihr und mir hinab gelassen. Jetzt nimmt sie die Fernbedienung, die an der Bettkante hängt, und kündigt mir an, das Bett nach oben und das Kopfteil nach unten zu fahren. Das surrende Geräusch des Motors. Ich liege nun flach auf dem Rücken und throne hoch oben im Nirgendwo zwischen Fußboden und Decke.
Die Deern schaut mich an und sucht mit ihrem Blick mein Einverständnis. Ich gebe es ihr wortlos. Sie sagt: „Ich mache jetzt die Hose auf.“
Sie zieht die vier Klebestreifen an der Windel ab. Sie stellt mir die Beine ein wenig breitbeinig auf, zieht die Windel von meinem Bauch und legt den oberen Teil zwischen meinen Beinen auf das Bett ab. Der Geruch meines Kots erfüllt den Raum. Ich kann mich nicht bewegen.
„Gut Frau Kuhn, dann einmal auf die Seite drehen“, ihre Stimme ist ruhig und sachlich.
Routine. Mit dem linken Arm ergreife ich das rechte Bettgitter, während mich ihre Latexhände an Knien und Hüfte erfassend auf die rechte Seite drehen.
„Sehr schön, das klappt ja prima“, sagt sie beinahe emotionslos.
Mit dem Gesicht zur Wand, das Bettgitter immer noch umklammert, lasse ich die morgendliche Prozedur über mich ergehen, deren Handgriffe durch die Stimme der Deern angekündigt werden: Sie nimmt die Windel und legt die beschmutzten Seiten aufeinander. Dann gibt es einen kleinen Ruck und sie zieht den Rest der Windel unter meiner rechten Hüfte heraus. Feines Plastik knistert und der Gestank beginnt sich zu legen. Klopapier wird abgerissen, einige Male. Klopapier wischt an meinem Gesäß und der Gesäßfalte, einige Male. Feines Plastik knistert, einige Male. Wasser plätschert in einer Schüssel, ein Waschlappen wird ausgewrungen. Warm, feucht und nach Waschlotion duftend fährt der Lappen über mein Gesäß und die Gesäßfalte. Dann abtrocknen.
„Gleich geschafft, Frau Kuhn“, sagt die Person hinter mir.
Gleich geschafft. Wer spricht? Wie lange noch? Noch Tage? Stunden? Monate? Wann werde ich es geschafft haben? Wie lange liege ich hier schon? Monate, Jahre, Wochen, Tage? Und wohin dann? Jetzt bin nicht mehr ich es, die sich in der Zeit bewegt, sondern die Zeit bewegt mich. Ich werde loslassen, wenn die Zeit mich loslässt.
Morgens waschen, die Deern. Nun schmiert sie kalte Creme auf meinen Steiß und reibt sie ein. Watte und Plastik rascheln und ein kühler Wulst wird unter meine rechte Seite geschoben. Die Deern kündigt an, mich wieder auf den Rücken zu drehen. Ich lasse das rechte Bettgitter los, rolle zurück und komme auf der wattierten Oberfläche einer neuen Windel zu liegen. Schon habe ich einen dampfenden Waschlappen in der Hand und wasche wie jeden Morgen meinen Intimbereich selbst. Selbstbestimmtes Handeln, wie klein mein Radius ist. Waschlappen und Handtuch tauschen ihre Plätze. Danach fasst mich die Deern unter meine rechte Hüfte, dreht mich kurz einige Zentimeter zu sich hin und zieht den fehlenden Teil der Windel unter mir hervor. Sie legt die obere Hälfte der Windel auf meinen Bauch und vier Klebestreifen beenden eine weitere Runde des immer gleichen Ablaufes.
„So“, die Deern klingt erfreut. „Jetzt nur noch oben herum waschen.“
Die Deern und ich halten uns an den Schultern fassend umschlungen. Sie lehnt sich zurück und zieht meinen Oberkörper durch ihr eigenes Gewicht in eine sitzende Position. Mit einer Hand hält sie mich aufrecht, während sie mir mit der anderen Hand das Nachthemd über den Kopf zieht. Dann lässt sie mich wieder auf die Matratze zurücksinken. Anstrengend. Jetzt wäscht sie mich, ich wasche mein Gesicht, sie cremt mich ein, ich kämme meine Haare. Eigenständig handeln. Was noch geht. Ein frisches Nachthemd. Wieder werde ich angehoben, mir das Nachthemd über den Kopf gezogen. Hinlegen. Liegen. Kopfteil hoch-, Bett runterfahren. Die Deern läuft geschäftig hin und her und räumt auf. Nun erfüllt der beißende Geruch von Desinfektionsmittel den Raum. Ich, ein Infekt.
Gleich wird die Deern mit dem Frühstück kommen: eine Scheibe Rosinenstuten mit Butter, ohne Rinde und in kleine Stücke geschnitten, ein Becher dünner Kaffee mit Milch und Zucker und ein Glas Wasser in einem Schnabelbecher. Sie wird es auf dem kleinen Rolltisch über meinem Bett aufbauen, sich mir gegenüber setzen und mir mehrfach von allem anbieten. Ich werde ablehnen. Alles. Auch das Wasser. Ich bin müde.
Jetzt sitzt mir die Deern gegenüber, den Rücken zum Fenster. Zwischen uns das Frühstück. Ich habe es abgelehnt, auch das Wasser. Die Deern kann nichts mehr für mich tun. Aber sie bleibt. Sie schweigt und sitzt und atmet und trägt meinen Atem. Sie ist ein Widerstand im Raum, der mich reflektiert und so spüre ich, dass ich existiere. Ich atme und die Deern schweigt und sitzt mir gegenüber und atmet und trägt meinen Atem. Jetzt könnte ich loslassen. Jetzt bin ich und die Deern trägt meinen Atem. Ich würde meinen Atem loslassen und gehen und es würde nichts ausmachen, denn die Deern ist da und trägt meinen Atem einfach weiter. Jetzt könnte ich loslassen. Jetzt. Jetzt werde ich…
„Ich werde jetzt gehen, Frau Kuhn“, sagt die Deern, steht auf und gibt mir meinen Atem zurück. „Bis morgen dann.“


Sonntag, 6. Januar 2008

Pflanzen an die Macht!

Folgendes Gesprächsprotokoll fand ich heute nachmittag auf der Innenseite einer Packung "Sweet Chai - Ayurvedische Gewürzteemischung" der Marke "YogiTee":

"Gespräch mit Frucht-Devas

vom 1. Februar 1964

'Glücklichsein ist grundlegend wichtig - ein Geheimnis, das dem Menschen fremd wird, wenn sie ihrer Gier nach Besitz und Macht folgen. Wir wünschen, jedes menschliche Wesen würde uns zuhören und verstehen, dass nichts wert ist, getan zu werden, was nicht mit Freude getan wird, dass bei jeder Tat die Strahlungen der Motive, die nicht aus Liebe und Freude kommen, die Ergebnisse verderben. Könnt ihr euch eine Blume vorstellen, die aus Pflicht entstand, die dann die Herzen der Betrachter beglückte? Nein, sie würde nicht die richtige Aura haben. So tanzen wir durchs Leben und schaffen, immer schöpferisch, und hoffen auf eure Mitarbeit.'

Dorothy Maclean, Mitbegründerin der Findhorn Gemeinschaft, erlernte die Fähigkeit, mit Pflanzen Devas zu kommunizieren und dokumentierte diese Gespräche. (Heyne 9722)"

Was für eine tiefgründige Frucht-Devas! Ich versuche seitdem Kontakt zu meinem Drachenbaum aufzunehmen, um herauszufinden, ob er die philosophischen Ansichten der Frucht-Devas teilt. Bislang leider ohne nennswerte Resultate...

In diesem Sinne!

Samstag, 5. Januar 2008

Entschuldigen Sie, wo bitte geht es hier zu mir selbst?

Geschrieben am 7. Juli 2005 in Hamburg (Deutschland):

"Ich habe gehört, du fährst bald auf so einen Selbstfindungstrip?“ wurde ich neulich begrüßt. Selbstfindungstrip?! Ich war peinlich berührt...

...und fühlte mich irgendwie - ertappt! "Nun ja“, stammele ich und murmele etwas von „zehn Monate…Lima…La Paz…Santiago…Feuerland…Lebenstraum…Buenos Aires…lange gespart und so."Mit Trip bin ich soweit also einverstanden. Aber Selbstfindung? Das klingt nach Männergruppe („Klaus-Dieter, ich glaube du unterdrückst das innere Kind in dir.“) oder diskurstheoretischer Vaginalkunst. Und überhaupt: Heißt Selbstfindung nicht auch, dass ich mich selbst verloren habe oder schlimmer: noch nie gefunden? Schwang da etwa der Vorwurf mit, ich sei in der Postpubertät versackt und erst eine lange Reise in ferne Lande würde mir die nötige Reife verleihen, gemäß der Gleichung: Finden = Wissen = Gewissheit = Bewusstsein, also Selbstfindung = Selbstbewusstsein? Jemand der sich selbst gefunden hat, der ist zielstrebig, der kennt seine Stärken und Schwächen, den plagen keine Zweifel und sicherlich ist er oder sie der ganz große Checker. Ich selbst kann trotz meiner 25 Lenze nicht behaupten, diese Kardinalstugenden des 21. Jahrhunderts in mir vereint zu haben. Ich zweifle ständig an allem und jedem, fünf Jahre diffuser Uni-Wust haben mein Lebensziel bislang nicht zu Tage fördern können, ich staune immer wieder über mich selbst und wo der Frosch die Locken haben soll, bleibt mir bis heute verborgen. Wäre da nicht dieser Versagensängste hervorrufende Beigeschmack, würde ich sagen, dass mir ein wenig Selbstfindung gar nicht schaden könnte. Und, ja klar will ich auf meiner Tour was erleben und beabsichtige, mein Selbst davon nicht auszuschließen. Bleibt die Frage, was genau ein erfolgreicher Selbstfindungstrip beinhalten muss: Werde ich orangefarbene Kutten tragen und wird mir von Zeit zu Zeit ein „Hare Krishna“ entfahren? Werde ich mich gegrilltes Meerschweinchen essend in einem Fass die Iguazú-Fälle hinabstürzen oder mich nackt im Urwald aussetzen lassen, um das Balzverhalten der Argusfasane zu erforschen? Ist „Selbstfindungstrip“ eigentlich eine Beleidigung? Hoffentlich werde ich mich beim Anblick meiner selbst nicht erschrecken! Und dann? Ende gut, alles gut? Oder sollte ich mich gar trotz Trip nicht finden? Ich bekomme Magenschmerzen.

„Ja, weißt du“, schwafelt mein gleichaltriges Gegenüber weiter, „seit meiner Hochzeit bin ich selbst viel gefestigter! Das hat mir auch im Büro noch einmal ein ganz anderes Auftreten verschafft. Fehlen nur noch die Kinder…“. Ich stutze: Hochzeit und Büro? Kinder?! Plötzlich finde ich es gar nicht mehr so übel, mit 25 Jahren noch auf der Suche zu sein. In Wahrheit will ich einfach nur eine gute Zeit haben!