Montag, 8. Dezember 2008

Der Geisteswissenschaftler, das Mammut und die Keule

Geschrieben am 12. April 2008 in Sehlendorf (Deutschland):

Auch die „Generation Praktikum“ wird irgendwann erwachsen. Und dann?
Bis an die Zähne mit Magister-Titel und einem vor Praktika heiß gelaufenen Lebenslauf bewaffnet ziehen wir Geisteswissenschaftler nun also los, um das Mammut der Postmoderne zu erlegen, den heiligen Gral unser eigen nennen zu können, unsere einzige Sehnsucht endlich zu erfüllen: Es, das sagenumwobene Volontariat!
Jeder kennt jemanden, der – angeblich - eines absolviert, aber mit eigenen Augen und in freier Wildbahn hat es noch niemand lebend gesehen...

"Ich hätte auch Mathematik studieren sollen!“, steuere ich zu einer Runde Bier und kollektiven Gejammers über die Zukunftschancen für junge, engagierte, hoch motivierte und qualifizierte Geistes- und Sozialwissenschaftler bei.
„Und“, kommt der übliche Einwand „was würdest Du dann damit machen?“
„Versicherung!“, antworte ich wie aus der Pistole geschossen.
Allgemeine Heiterkeit.
Ich kann den Anlass für diese gesteigerte Ausgelassenheit nicht verstehen. Immerhin hätte ich in einer Versicherung ein gutes Einkommen und ein bequemes Leben mit Gleitzeit, voller betrieblicher Absicherung, bezahltem Urlaub, 13. Monatsgehalt. Vielleicht sogar Kinderbetreuung? Geschäftsreisen? Ich gerate ins Schwärmen.
„Und dann willst Du bis zur Rente also in einem Büro der Allianz sitzen und Kalkulationen anstellen?“, wird meinem unverständig fragenden Gesicht entgegen gehalten.
Ach so. Nee, natürlich nicht. Jetzt verstehe ich wo der Haken an der Sache ist und kann mir bei dem Gedanken daran, wie ich mit Rechnen oder gar Logik meinen Lebensunterhalt bestreiten soll, ein Grinsen auch nicht verkneifen. Mathe ist eh doof.
Und so bleibt auch mir nach dem erfolgreichen Abschluss eines geistes- und sozialwissenschaftlichen Studiums nichts weiter übrig, als mich ebenfalls auf Volontariatsjagd zu begeben. Die Konkurrenz schläft nicht und nur der Stärkste überlebt. Da heißt es also die Keule schwingen und sich mit Gebrüll ins Schlachtgetümmel werfen!

Auf der Leipziger Buchmesse schwingt meine Freundin Ann-Kathrin – ihres Zeichens junge und aufstrebende Geisteswissenschaftlerin – ihre Keule. Das literarische Schlachtengetümmel ist durchsetzt mit allerlei zivilen Raritäten: Herden an Schulklassen werden von euphorisierten Lehrern durch die Hallen getrieben, eine Spanisch-Dolmetscherin betreibt Zwei-Kanal-Kommunikation. Jungliteraten erotisieren den weiblichen Teil eines Deutsch-LKs aus der Provinz mit ihren Erzählungen aus dem hamburgischen Prekariatsmilieu. Gewalt, Tristesse, Drogen, soziale Abgründe, präpubertäre Perversionen, gescheiterte Lebensläufe. Das ist so urban, so echt, so intensiv, so-!
Eine Gruppe um die Satire-Zeitschrift „Eulenspiegel“ hat ein Kinderpappspielhaus aufgebaut und macht – warum auch immer – einen Riesenwirbel darum. Pappdach auf, Punk rein. Pappdach zu. Punk schaut aus dem Fenster. Pappdach auf, Punk raus. Laptop an. Pappdach zu. Punk rein. Ein Kamerateam der ARD filmt das Spektakel. Wahrscheinlich ist es lustig. Weiter hinten flanieren mit jeder Pore ihres Daseins Aufmerksamkeit einfordernd Manga-Fans in befremdlichen (werde ich etwa alt?) Kostümierungen: „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein!“.
Und zwischen all diesen Gestalten, das Mammut klar anvisiert, schwingt Ann-Kathrin nun ihre Keule. Gemeine Zungen würden sagen, sie ginge Klinken putzen. Mit der Geisteswissenschaftlern eigenen Beharrlichkeit und Unerschrockenheit, denn man ist es gewohnt, dass es eigentlich niemand ernsthaft interessiert, was man da betreibt, spult Ann-Kathrin den immer gleichen Spruch ab, der mit wissenschaftlicher Zuverlässigkeit in immer dem selben Dialog mündet:
„Guten Tag, mein Name ist Ann-Kathrin Schröder, ich bin Studentin. Nach dem Examen möchte ich gerne ein Volontariat in einem Verlag absolvieren und wollte mal fragen, ob das bei Ihnen möglich ist und ab wann Sie wieder Plätze frei hätten.“
„Ja, das geht. In welcher Sparte möchten Sie das Volontariat denn absolvieren?“
„Im Lektorat.“
„Ah ja, Lektorat… Ja, aber da sind alle Plätze bis Sommer 2024 vergeben.“
So oder so ähnlich. Dann gibt es meistens noch eine Visitenkarte mit dem Namen einer Ansprechpartnerin in die Hand gedrückt, dazu einen Bonsche, einen Button oder einen Aufkleber. Danke schön und auf Wiedersehen, während ich in bester Sherlock-Holmes-Manier auf das Namensschild des Verlagsmitarbeiters schiele und für Ann-Kathrin die Referenzpersonalien aufnehme.

„… und beim NDR würde ich aber zwischen 1300 und 1400 Euro verdienen“, referiere ich über die Vor- und Nachteile der einzelnen Volontariate. NDR, das ist zwar bei mehreren hundert Bewerbungen auf 18 Volontariatsstellen jährlich ein wenig größenwahnsinnig, aber irgendwer muss diese Plätze ja bekommen, warum also nicht ich? Noch bin ich optimistisch.
„Oh! Naja, das ist natürlich wenig. Aber danach verdient man dann ja ziemlich gut, oder?“, Stefan – Phillips, Gleitzeit, dreizehntes Monatsgehalt, bezahlter Urlaub, volle betriebliche Absicherung - hat irgendwas von diesen Techniksachen studiert, die ich mir nie merken, geschweige denn auseinander halten kann. Irgendetwas was von mir – wahrscheinlich fälschlich – in die Schublade mit der Aufschrift „Ingenieur“ gesteckt wurde. Und Stefan hat da was falsch verstanden. Einstein lässt grüßen.
1300 bis 1400 Euro für ein Volontariat war kein Nachteil, sondern ein absoluter Vorteil, denn das hieße, dass ich mich allein von der Vollzeitausbildung finanzieren könnte und nicht noch abends oder an den Wochenenden jobben müsste. Volontariate, bei denen man 500 oder 600 Euro monatlich verdient, sind auch bei namhaften Verlagen und Sendern keine Seltenheit.

Noch eher zaghaft schwinge nun auch ich meine Keule. Ich und mein erstes Assessment-Center, der rbb, der NDR Berlin-Brandenburgs, hatte geladen! Unter ebenfalls hunderten Bewerbern habe ich mich gemeinsam mit 31 überwiegend Mitstreiterinnen, für die letzte Runde im Kampf um den Mammutstoßzahn durchsetzten können.
Diesen Erfolg habe ich nicht etwa meinem Fleiß, meinem Talent oder meinen journalistischen Vorkenntnissen zu verdanken, sondern einzig und allein dem bedingungslosen Einsatz meiner Würde und meiner körperlichen Unversehrtheit. Für die Vorrunde musste unter anderem eine Reportage über Extremsport geschrieben werden. Und als echte angehende Reporterin habe ich das Angebot der beiden Parkoursportler, doch einfach gleich mitzumachen, direkt angenommen, ohne vorher an meine physische Prädisposition gedacht zu haben. Wenn schon, denn schon! Ergebnis des Experiments war ein spaßiger und ereignisreicher Nachmittag, den ich gekonnt mit einem Krankenhausbesuch wegen eines geprellten Fußes zu krönen wusste. Das Mammut forderte seinen Tribut!
Doch zurück nach Potsdam. Zwei Tage lang versuchten ich und meine Mitbewerber das Mammut zu bezwingen. Wie die Liliputaner Gulliver bekämpften, präsentierten, formulierten, schnitten, recherchierten und diskutierten wir auf das Gulliver-Mammut ein. Der Umgang war trotz der Konkurrenzsituation entspannt. Keiner wollte sich als unsoziales, karrieregeiles Ellenbogenarschloch outen. Und es gab nicht nur viele schöne Streicheleinheiten für das Ego, sondern ich habe dort auch die peinlichsten 45 Minuten meines Lebens durchlitten. Es war ein Ringen um Leben und Tod. Das Mammut oder ich. Hinterrücks hatte ich schon den Kopf des Mammuts erklommen und befand mich in einer einmaligen Ausgangsposition. Jetzt, mitten auf die Zwölf! Doch wo hatte ich nur meine Keule gelassen?
Gut, dies war meine erste Mammutjagd. Ich habe es zwar nicht erlegen können, aber ich war kurz davor. Mit anderen Worten: Nachrückerplatz und keiner der 16 tapfersten Krieger hat abgesagt.

Aber das nächste Mammut, das wird bestimmt meins!