Donnerstag, 17. August 2006

Herbergseltern und Menschen in Bussen

Geschrieben am 14. August 2006 in Santiago (Chile):

Herbergseltern und Busnachbarn waren auf meiner Reise ebenso interessante wie selbstverständliche Bekanntschaften. So selbstverständlich, dass ich von diesen Menschen eigentlich nie Fotos gemacht habe. Sie waren einfach da. Und dann fuhr ich weiter. Eine herzliche Verabschiedung, gute Wünsche werden mit auf den Weg gegeben, ein letztes Mal gewunken und das war´s dann. Augenscheinlich. Doch genau diese flüchtigen, beiläufigen Begegnungen waren am aufschlussreichsten. Die Wahrheit liegt wohl im Detail.

Auf einer Busfahrt in Bolivien beispielsweise, hatte ich einige Stunden eine Bolivianerin als Sitznachbarin, die nicht viel älter als 50 Jahre zu sein schien. Aber Indígenas hatten für mein ungeschultes, europäisches Auge zumeist ohnehin nur drei Alter: Kind, Erwachsener und Greis. Meine Sitznachbarin, in ihrer traditionellen und sehr einfachen Kleidung, erzählte nun also klar und munter von ihrer Familie: acht Kinder, 26 Enkel und sogar einen Urenkel gäbe es bereits. Und alle seien mehr oder weniger wohl geraten, sicherlich, der eine oder andere mache mal Sorgen, aber im Großen und Ganzen ginge es schon einigermaßen. Glück hätten ihre Kinder gehabt. Alle hätten gut geheiratet, keiner der Männer würde über das Maß trinken oder prügeln, die Ehefrauen seien alle sehr sittsam und sauber. Eine gute Familie. Arm ja, aber eine anständige Familie! Nun sei sie auf dem Weg nach Oruro, um ihren Sohn und seine Familie zu besuchen, die sie seit acht Jahren nicht gesehen hätte, des Geldes wegen. Das kleine Stückchen Land in den Bergen werfe eben nur das Nötigste ab und manchmal noch nicht einmal das. Ich drücke mein Bedauern darüber aus, dass sie aufgrund finanzieller Schwierigkeiten ihre Familie so wenig sehen kann. Nun bin ich an der Reihe und erzähle von meiner Familie und meinem Leben in Deutschland: dass ich keine Geschwister habe, dass meine Eltern sich getrennt haben und dass beide wieder geheiratet haben. Für mich, ist dies eine Familiengeschichte von vielen, nichts besonderes, für mein Gegenüber jedoch, ein Anlass zu herzlicher Anteilnahme: „Du Arme!“, ruft sie bestürzt. „Da möchte ich aber nicht mit Dir tauschen!“
Es entstand eine Pause, während der ich dachte, dass ich auch nicht mit ihr tauschen möchte. Und einvernehmlich schweigend freuten wir uns unseres bescheidenen Glücks.

In Puerto Wiliams wohnten Susann und ich – äußerst gemütlich – in einem kleinen Zimmer mit Bad und Kaminofen, das uns ein chilenisches Ehepaar vermietete. Im ersten Stock des Hauses, betrieben die beiden ein „Restaurant“ mit Meerblick, das ich eher als einen Aufenthaltsraum mit eingeschränkter Bewirtung bezeichnet hätte. Spezialität des Hauses: Bieber (etwas knochig und mit leichtem Wildgeschmack). Der Mann war früher beim Militär und nun, nach der Pensionierung, versuchen sie sich durch den Tourismus über Wasser zu halten. In den siebziger Jahren, so erzählte er, hätte er sieben Monate bei der Bundeswehr in Kiel zu Fortbildungszwecken verbracht. Unser rauer, aber sehr herzlicher Vermieter, der uns morgens im täglichen Wechsel mit seiner Frau ganz rührend fürsorglich das Frühstück servierte, konnte noch genau einen deutschen Satz, der in jeder Lebenslage hilfreich sein muss. Er lautete: „Sing!, mein Freund!“

Die Vermieter des Praktikantenhauses in La Paz, waren so arm, dass sie monatelang in ihrem Ferienhaus in den subtropischen Yungas verbringen mussten. Verständlich, dass sie mit uns um jeden Boliviano feilschen mussten, uns die Mietpreise falsch berechneten, Wechselgeld nicht wiedergaben und gerne mal am Samstagmorgen um 8Uhr wild gegen die Zimmertüren hämmerten, um die Miete einzutreiben. Johnny, der Junge, der als „Mädchen für alles“ gnädigerweise in einer Art Loch unter unserem Trakt wohnen durfte, wurde eigentlich mehr wie ein Sklave gehalten. Unsere Vermieterin beschwerte sich gerne darüber, wie undankbar er doch sei, nach allem, was sie für ihn getan hätte! Auch kleineren Reklamationen unsererseits, dass es zum Beispiel nicht ein brauchbares Messer gäbe, wurden erst nach Drohungen mit kollektiven Auszug Beachtung geschenkt und die Messer mit dem Aufsehen eines Staatsaktes zum Schleifen gebracht. Doch eines schönen Sonntags, den wir alle außerhalb La Paz´ verbracht hatten, wendete sich das Blatt. Als wir ins Haus zurückkamen, fanden wir alle unsere Zimmer frisch gestrichen vor. Auf Abdeckplanen oder ein Ausräumen unserer Sachen hatte man jedoch verzichtet und dankenswerter Weise die Türen zu den Zimmern, in denen sich Pässe, Laptops und Kreditkarten befanden offen gelassen, damit die Dämpfe der Lackfarbe ausdünsten könnten. Unsere Empörung über diese Überrumpelungsaktion stieß auf Unverständnis. Anlaß der Verschönerungsaktionen war die Mitarbeiterin der deutschen Handelskammer, die sich zur jährlichen Inspektion angekündigt hatte. Im Rahmen der Konstruktion dieses potemkinschen Dorfes wurden wir auch alle acht zum Essen bei den Señores in ihrem feinen Repräsentierzimmer eingeladen. Das Essen selbst viel dafür dann umso bescheidener aus. Und dort saßen wir dann und speisten, tauschten Liebeswürdigkeiten aus und heuchelten Interesse. Doch diese Farce gab auch Gelegenheit unsere Vermieter ein wenig näher kennenzulernen, zum Beispiel, dass sie fünf Kinder haben, von denen zwei in den USA leben und dass alle ihre in Bolivien verbliebenen Enkelkinder auf eine deutsche Privatschule gehen. Als Florian und ich von unserem Aymarakurs erzählten berichteten sie, dass sie 15 Jahre lang eine Aymara als Haushälterin gehabt hätten. Eine echte Perle!
„Und?“ fragten wir nach. „Haben sie noch einige Wörter Aymara in Erinnerung?“
„Behalten?“ ist die ungläubige Reaktion. „Wir haben sie nie nach ihrer Sprache gefragt!“
Immerhin sind Aymara und zwei weitere indigene Sprachen neben Spanisch gleichberechtigte Amtssprachen in Bolivien und es gibt auch Bolivianer, die kein Spanisch sprechen.

Diese und noch viele weitere Begegnungen dieser Art bereicherten meine Reise und ließen mich Länder und Leute mehr und mehr verstehen. Doch sie alle hier aufzuzählen, würde eindeutig den Rahmen sprengen. Zum Schluss muss an dieser Stelle aber selbstverständlich noch einmal Gaby erwähnt werden, die Mutter aller Herbergsmütter, der am besten ein eigenes Buch gewidmet werden sollte. Doch für dieses Mal will ich es bei einem Bild von ihr, stellvertretend für alle guten Seelen, die meinen Weg kreuzten, belassen.