Dienstag, 30. Mai 2006

„Es ist alles in Ordnung, solange ich nicht krank werde.“

Geschrieben am 29. Mai 2006 in Santiago (Chile):

„Es ist alles in Ordnung solange ich nicht kranke werde“, mein Mitbewohner Rodrigo redet über seine finanzielle Situation. „Wenn ich ernsthaft krank würde, wäre das mein Ruin“. Rodrigo ist 32 Jahre alt, hat studiert, arbeitet volltags in einer Softwarefirma mit guter Auftragslage und ist zum Glück gesund.

Mit 40,3Grad Körpertemperatur betrete ich das städtische Krankenhaus des chilenischen Küstenortes Pichilemu. Das Gebäude ist weder alt noch neu, ein verwinkelter Bungalow, der für mein Verständnis von "Krankenhaus" zu klein ist. Schon von außen dringt der Verfall aus jeder Ritze. Die Glastür zur Rezeption hat einen großen Sprung. Sie scheppert und wackelt verdächtig, der Linoleumboden quietscht unter meinen Turnschuhen. Die Schwester hinter dem Fensterchen mit dem viel zu kleinen Sprechloch ist nett und gibt sich sichtlich Mühe meine vom Fieber verwaschenen, auf Spanischen gestammelten Erklärungen über meinen Gesundheitszustand zu verstehen. Ich bin allein. Vom Fensterrahmen plättert der Lack ab. Da es schon kurz nach Mitternacht ist, muß ich nicht lange warten, bis ich in das Behandlungszimmer gebeten werde. Ich trete durch eine Tür, die aussieht wie die Tür zu meinem ersten Klassenzimmer und befinde mich in einem OP-Saal aus der Zeit des zweiten Weltkrieges. Auf der Bahre liegt ein bärtiger Offizier, Kopfschuß, alles ist voller Blut und es riecht nach Penner und billigem Fusel. Die Schwester schiebt mich an dem Verwundeten vorbei, durch einen Vorhang in das dahinterliegende, kleine Behandlungszimmer. Ohne ein Wort zu verlieren macht sie sich an meinem Kragen zu schaffen und schiebt mir ein Fieberthermometer unter die Achsel. „Ay!“, ruft sie aus, als sie es abliest. Das hätte ich ihr auch gleich sagen können. Ich zeige ihr die 10cm messende Schwellung an meinem Oberschenkel. Ein Mückenstich hat sich, wohl aufgrund der massiven Gabe von Antibiotika, die mir wegen meiner Zahnoperation in Bolivien zu Teil wurde, entzündet. Ich werde örtlich betäubt und der Arzt schneidet die Beule auf, um den Eiter herauszulassen. Zum Abschluß bekomme ich eine Kanüle gelegt, durch die mir 240ml Wasser-Antibiotika-Lösung injiziert werden und man weist mich an, morgens um sechs zur nächsten Behandlung wiederzukommen. Mehr als geschafft gehe ich zurück ins Hostal, das zum Glück gleich um die Ecke liegt.
Fünf Tage lang werde ich mich alle sechs Stunden – morgens um sechs, mittags um zwölf, abends um sechs und nachts um zwölf – im Krankenhaus von Pichilemu einfinden. Bei jedem Besuch werden mir 240ml Wasser-Antibiotika-Lösung in die Vene gejagt. Einmal täglich drückt mir eine hoffnungslos überarbeitete Schwester unter meinen Schmerzensschreien die Wunde aus wie einen überdimensionalen Pickel und reinigt sie. Nach einigen Tagen, als der Stich fast nicht mehr eitert, hat sich unter der Haut ein Hohlraum gebildet, in den sich locker zwei Tupfer schieben lassen. Die Schwestern arbeiten mit flinker, geübter Hand und vorbildlich steril. Dennoch muß ich jedes Mal mit Ekel- und Beklemmungsgefühlen kämpfen. Die weißen Laken auf den Behandlungsliegen sind gewaschen und gestärkt, aber alte, nun gelbliche Blutflecken sind dennoch zu sehen. Ein Laken hat einen großen Riss. Die metallenen Liegen, Tische, Stühle und Infusionsständer rosten. Eine Deckenplatte löst sich, die Wände sind fleckig und das Neonlicht flackert. Es ist nicht dreckig, es wird nicht geschlampt, es ist nur alles abgenutzt, verfallen. Tagsüber stapeln sich auf den Gängen die Menschen: Vor den Behandlungstüren wartet eine Schwangerschaft neben Zahnschmerzen, ein Beinbruch neben einer Diabetis, ein Durchfall neben einem Surfunfall, eine Routineuntersuchung neben einem entzündeten Mückenstich. Wenn die Tür ins Allerheiligste einmal passiert ist, heißt dies nicht, dass das Warten dann ein Ende hat. In den drei durch Vorhänge getrennten Behandlungszimmer stehen vier Liegen, die immer besetzt sind. Hinter dem Behandlungszimmer befindet sich ein weiterer Flur, auf dem weitere Kranke auf weiteren Liegen warten. Einmal, es war kein Platz mehr für mich, setzt man mich kurz entschlossen in den privaten Rollstuhl einer alten Dame. Manchmal spiele ich mit dem Gedanken, mir morgens beim Sechs-Uhr-Termin einfach eine der Liegen mit einem Handtuch zu reservieren. Die kurze Zeit zwischen den Behandlungen verbringe ich alleine im Hostalzimmer, liegend, damit sich die Entzündung nicht im Körper verteilt. Aus ist der Surfspaß!

Das chilenische Gesundheitssystem besteht aus einem privaten und einem öffentlichen Sektor. Die öffentliche Krankenversicherung teilt seine Mitglieder in fünf verschiedene Gruppen anhand ihres Einkommens ein. Wer gar nichts hat, der muß auch weder Beiträge noch Eigenleistungen zahlen. „Aber warum, wenn doch die Gesundheitsversorgung für die Armen gratis ist“, frage ich meinen Tandem-Partner, der Arzt ist, „haben so viele von Susanns und Claudias Patienten keine Krücken, keine Rollstühle, keine Pflegebetten, keine Windeln, obwohl sie sie doch so offensichtlich bräuchten?“.
„Der Staat hat eben zu wenig Geld“, so die einfache Antwort.

Susann und Claudia arbeiten bei der deutschen Stiftung „Cristo Vive“ in einer Armensiedlung als Krankenschwester/Ergotherapeutin und Physiotherapeutin. Nach einem halben Jahr ebenso konsequenter wie belastender Arbeit, machen ihre Patienten gute Fortschritte: Ein Mann mit Schlaganfall könnte jetzt wieder gehen, aber er wird nicht gehen, da es von der öffentlichen Krankenversicherung keinen adäquaten Gehstock für ihn gibt. Seine Angehörigen müssten wieder und wieder zum Amt fahren und um diesen Stock betteln. Und selbst wenn die Familie, die in der ärmlichsten Hütte lebt, die ich in diesem Land je gesehen habe, das Geld für die Busfahrten hätte (ca. 50Cent pro Fahrt), wäre es nicht sicher, dass sie auch einen Stock bekämen. In einer ähnlichen Situation befindet sich noch ein weiterer Schlaganfallpatient, der nun durch die kontinuierlich trainierten Übungen wieder sitzen kann. Eine Fähigkeit, die ihm ohne Rollstuhl aber nur bedingt hilfreich ist. „Cristo Vive“, die keine staatliche Unterstützung erhält und sich ausschließlich durch Spenden finanziert, kann ebenfalls weder einen Rollstuhl noch Krücke erübrigen. Als meine Mutter, die Chile nicht nur erfüllt mit Bildern von bewegenden Landschaften, sondern auch erfüllt mit Bildern von Armut, verlassen hat, von der Situation der beiden Schlaganfallpatienten erfährt, erklärt sie sich bereit den Rollstuhl und den Vierpunktstock zu spenden. In einem kleinen Santitätshaus im feinen Stadtteil Las Condes erstehen Claudia und ich einen Stock (30 Euro) und einen Rollstuhl in einfachster Ausführung (165 Euro), die wir mit öffentlichen Verkehrmitteln einmal durch die Stadt zu ihren neuen Besitzern transportieren. Mit vereinten Kräften träufelen wir so einen Tropfen auf den heißen Stein der öffentlichen Gesundheitsversorgung in Chile.

Rodrigo ist privatversichert. „Gesundheit“ ist der zweitertragreichste Wirtschaftszweig im neoliberalen Chile. Letzten Monat hat er einen Brief von seiner Krankenversicherung bekommen, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass man ihm für seinen jetzigen Beitrag leider nicht mehr dieselben Leistungen anbieten könne, man lade ihn jedoch ein, sich über Alternativen zu informieren. Im Krankheitsfall müsste er immer auch einen Eigenanteil leisten. Hinzu kommt, dass „Lohnfortzahlung im Krankheitsfall“ in Chile ein Arbeitnehmertraum ist. Eine ernsthafte Krankheit wäre Rodrigos finanzieller Ruin.

Jetzt wo ich wieder in Santiago bin, habe ich keine Sorgen mehr krank zu werden. Meine private Auslandskrankenversicherung, die mich als Studentin 35Euro monatlich kostet, übernimmt 100% der Behandlungskosten und das selbst in den besten Privatkliniken, in denen Ambientalmusik durch die marmorbefließten Flure schallt.