Sonntag, 25. November 2007

Parkour oder Extremsport liegt im Auge des Betrachters

Geschrieben am 25. November 2007 in Hamburg (Deutschland):

Spätestens seit „Casino Royale“ ist Parkour in aller Munde. Die grazile wie kraftvolle Bewegungsform fasziniert mit spektakulären Sprüngen über Hochhausdächer und fluchtartigen Szenen durch die surrealistischen Kulissen der Pariser Banlieue. Mary Poppins „Dachfirsttanz“ trifft Spiderman. Doch was steckt wirklich hinter Parkour? Ein Bericht von der Basis.

Bild: Keno Roskam; Traceur in der Speicherstadt

St. Pauli Landungsbrücken – Barkassen, Löschkräne und die Docks von Blohm & Voss liegen friedlich im nachmittäglichen Schmuddelwetter. Möwen kreischen. Inmitten dieser Hafenidylle ziehen zwei Jogger an den wenigen Touristen, die auf der Promenade oberhalb der Fähranleger spazieren gehen, vorbei. Die Läufer erreichen das Ende des Weges, eine Gitterbalustrade, die die Passanten vor einem Sturz auf den etwa eineinhalb Meter tiefer gelegenen Weg schützen soll. Doch anstatt umzukehren, überspringen die Jogger - diese Sackgasse urbaner Architektur ignorierend - behände das Gitter, fliegen für Sekunden, landen in gehockter Position sicher auf der Erde und setzten ohne inne zu halten ihren Weg fort.
„Ehy! Pakuä!“, johlen von oben einige Halbstarke. „Das kann ich doch auch!“ Kannst Du?
Parkour wurde in den 1980er Jahren von einer Gruppe Jugendlicher um den heute 34jährigen David Belle aus der von Georges Hébert Ende des 19. Jahrhunderts erfundenen „Méthode Naturelle“ weiterentwickelt. Dabei übertrugen die Pioniere des Parkours die auch von französischen Vietnamsoldaten genutzten Methoden einer effizienten Flucht auf die Betonwüsten der Pariser Vorstädte.

Bild: Sarah Nitschke; Keno und Till am Hafen

Keno und Till – die beiden „Jogger“ – trainieren Parkour seit etwas über einem Jahr. Sie haben das Warmlaufen beendet und sind an einem ihrer Trainingsorte angekommen. Die gerüstartigen Treppenkonstruktionen, die vom Hafen zur U-Bahnstation „Baumwall“ hinaufführen, geben den beiden Traceuren, wie Parkour-Sportler genannt werden, die Gelegenheit verschiedene Techniken zu üben: balancieren und vor allem Sprünge. Affengleich, athletisch und hochkonzentriert turnen der Medizinstudent und der Zivildienstleistende über, unter und durch den Treppenaufgang, darauf bedacht ihre Bewegungen zu optimieren: rasch, effizient, fließend und elegant wollen sie die Hindernisse des urbanen Lebensraumes überwinden. Die Stadt wird zum Sportgerät.
Till springt auf eine über zwei Meter hohe Brüstung und verkürzt so seinen Weg um viele wertvolle Sekunden. Durch Parkour, so der 18jährige, teste und erweitere er die Grenzen seines Körpers und seiner Umwelt. Für ihn geht es bei Parkour um die Hindernisse, die ihm die Stadt stellt und die Art, wie er sie überwinden kann.

Bild: Keno Roskam; "Passement" -
Überwindung des Hindernisses

Die Sprünge der beiden, die alle drei Raumdimensionen ausschöpfen verkürzen Distanzen. Schnell sind die Bewegungen. So schnell, dass Details verschwimmen. Was bleibt ist das Bild eines Flüchtenden. „Durch Parkour erlerne ich natürliche Bewegungen, die für den Ernstfall, die Flucht, nützlich sind. Außerdem ist Parkour Freiheit pur! Ich bewege mich wie und wo immer es mir gefällt“, ergänzt Keno.
Andere Traceure wie der ebenfalls 18jährige Bjarne sehen in Parkour auch eine Art des Protestes: „Parkour ist ein wenig Rebellion gegen Normen wie die Begrenzungen die uns die künstliche Umgebung vorschreibt und vor allem gegen gesellschaftliche Sichtweisen. ‚Das ist gefährlich!’ oder ‚Mach nichts kaputt!’ sind Einschränkungen, die sind verständlich aber ‚Das macht man nicht’ ist zum Beispiel ein Satz, den ich nicht abkann.“ Dennoch gehört zu den Grundsätzen von Parkour auch, dass die Sportler ihren Mitmenschen und ihrer Umwelt mit Respekt und Achtsamkeit begegnen. Und so kommentieren die Passanten unaufgeregt und interessiert das Training von Till und Keno: „Guck mal, wie die klettern können!“, sagt ein Mann um die sechzig zu dem Kind, das er an der Hand halt. Kein Schimpfen, keine Empörung, keine Polizei.
Bild: Sarah Nitschke;
Keno beim "Passement Mureille"
Unterhalb einer 3,2 Meter hohen Mauer atmet Till tief durch, visiert sein Ziel an, nimmt Anlauf, stoppt abrupt, geht zur Ausgangsposition zurück. An den verschiedenen Mauern unterhalb des Michels trainieren Till und Keno den „Passe Mureille“, eine Grundbewegung zur Überwindung einer Mauer. Till lockert sich, konzentriert sich und nimmt erneut Anlauf. Dann der Absprung gegen die Mauer, doch die Hand schon auf der Kante, rutscht er wieder ab.
„Parkour ist wie ein Spiegel immer hart und unverfälscht zu Dir“, reflektiert Steven Käser, Schweizer Parkour-Profi und Mitbegründer der deutschsprachigen Parkour-Plattform ParkourONE. „Es konfrontiert Dich mit Dir selbst im Prozess des Überwindens eines Hindernisses: Wie hast Du das Hindernis gemeistert? Wieso hast Du es erst umgangen? Warum hattest Du Angst? Wie hast Du diese Angst bekämpft? Parkour kann Dir einen Weg zu dir selbst zeigen, wenn Du bereit bist zuzuhören. Wenn ich Parkour ausübe, dann spüre ich, dass ich lebendig bin und spüre die Welt um mich herum intensiver.“

Bild: Sarah Nitschke;
Till beim Balancieren
Ruhig und ganz bei sich steht Keno auf einer kleineren Mauer, ungefähr einen Meter über dem Asphalt. Der 24jährige geht in die Knie, stößt sich ab und landet mit einem Schlusssprung auf einer höher gelegeneren Mauer. „Saut de précision“ – Präzisionssprung heißt diese Bewegung, mit der er in einem Satz je einen guten Meter Breite und Höhe überwunden hat.
„Adrenalin? Nein, Adrenalin“, sagt Keno, „spielt keine Rolle. Es stört nur die Feinmotorik. Ständig unter Adrenalin könnte ich Parkour nicht ausüben. Wichtiger ist, sich nie zu überfordern und immer sicher zu sein. Nur die besten Traceure trainieren in großen Höhen. Es geht nicht um spektakuläre Stunts, Angeberei oder darum, wer der Beste ist. Daher finde ich nicht, dass Parkour eine Extremsportart ist. Ich halte mich damit fit. Nicht mehr und nicht weniger.“
Bild: Sarah Nitschke;
Keno an der Garage

Bereits auf dem Heimweg vom Training fällt Tills Blick auf eine Garage in einer Häuserschlucht, wie es sie zuhauf gibt: „Da müssten wir auch mal rüber!“.
Gesehen, getan. Denn Parkour ist mehr als eine weitere Trendsportart. Parkour ist ein Blickwinkel, ein Stück Straßenkultur und der Dialog zwischen Sportler und Stadt.

Sonntag, 8. Juli 2007

Die Moral von der Geschicht´

Geschrieben am 8. Juli 2007 in Hamburg (Deutschland):

Nun bin seit bereits unglaublichen 10 Monaten wieder in Deutschland. Wo ist nur die Zeit geblieben? Einen Umzug, eine Magisterarbeit, drei Mitbewohner, einen Geburtstag und einen deutschen Winter später ist aus gegebenem Anlass nun der Augenblick, mein Jahr in Lateinamerika zu resümieren.

Was soll ich sagen? Deutschland hat wirklich seine Vorteile. Gut, das Wetter gehört nicht dazu, aber der Alltag ist grüner, die Stadtluft sauberer, die Familie näher, das Essen leckerer, die Armut geringer und die Dinge, die ich brauche, einfacherer zugänglich. Trotzdem kann ich nicht leugnen, dass mich das Heim- oder Fernweh (das kommt auf den Blickwinkel an) doch dann und wann packt, und dann sehne ich mich meistens nach den Menschen, die uns Nordeuropäern in zumindest vier Dingen einiges voraus habe: Gelassenheit, Lebensfreude, Herzlichkeit und Offenheit.

Die beinahe schon sprichwörtliche Gelassenheit der Latinos („Mañana!“) hat wohl schon so manchen Gringo zur Verzweiflung gebracht. Doch man muss sich einlassen auf das veränderte Tempo, nicht umsonst sind hierzulande Ratgeber, die „Entschleunigung“ predigen ein Verkaufsrenner. Denn siehe da, auch wenn nicht immer alles sofort und 100%ig funktioniert, so geht die Welt davon nicht unter. Wenn der Busfahrer auf einer 14-stündigen Busfahrt durch einen Ort kommt, in dem einer seiner Kumpel eine Party schmeißt, dann bleibt er dort ein Stündchen und alle kommen eben etwas später an. Na und? Zeit ist nicht Geld, sondern Lebensqualität. Brechen die Holzkähne, die als Fähre über einen Flussarm dienen, beinahe zusammen, dann werden eben die Passagiere auf ein sichereres Bötchen geladen und getrennt vom Bus übergesetzt. Wo ist das Problem? Das Leben läuft auch jenseits von sklavischen Zeitplänen und TÜV-Bestimmungen. Das Loslassen von europäischen Maßstäben hat einen entschiedenen Vorteil: die Erwartungen sinken auf ein Minimum und das erhöht die Zufriedenheit. Wer nichts erwartet kann auch nicht enttäuscht werden. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Deutschen ein Volk der Meckerer, Beschwerer und Nörgler sind. Warum eigentlich? Ich finde nicht, dass wir großartig Grund haben, uns zu beschweren.
Obwohl – Geld macht nicht glücklich, das ist bekannt. An materiellem mangelt es uns nicht, aber vielleicht etwas an Lebensfreude. Mich hat es immer wieder fasziniert, wie selbst diejenigen, die in meinen europäischen Augen aufgrund ihrer Armut sehr unglücklich sein müssten, so viel Lebensfreude ausstrahlen konnten. Ich denke, dass wer nicht viel hat, versucht aus dem, was ihm bleibt das Beste herauszuholen. Wer sich keine Gedanken machen braucht, welches Navigationsgerät er sich anschafft, der hat Zeit, um vielleicht einen Plausch mit seinem Nachbarn zu halten. Und da Materielles nicht glücklich macht, ist der Klöner vielleicht zufriedener als der Autofahrer. Wer hart arbeitet und kaum Freizeit hat, der genießt diese vielleicht intensiver. Vielleicht ist der Tänzer zufriedener als der Shopper. Müssten wir weniger besitzen, um glücklicher zu sein?
Ebenfalls beeindruckt hat mich die offene Herzlichkeit, mit der man mir immer wieder begegnet ist. Sicher kann ich nicht immer unterscheiden, inwieweit die mir entgegengebrachte Sympathie mir oder meiner Kaufkraft galt. Hinzu kommt auch, dass ich als Weiße und Europäerin eine Exotin war, der man oft mit einer freundlichen Neugier begegnet ist, die man für eine Landsmännin verständlicherweise nicht erübrigt hätte. Gepaart war die Neugier mit einigen Vorurteilen, die mir immer wieder begegneten, wie zum Beispiel dem, dass ich superreich wäre. Für viele Menschen war die Tatsache, dass ich es mir leisten konnte in einem Restaurant zu essen gleichbedeutend damit, dass ich mir auch ohne weiteres für 500 Dollar einen Flug auf die Osterinseln leisten könnte. Dennoch – ich meine auch beobachtet zu haben, dass insgesamt die Menschen in Lateinamerika auch untereinander herzlicher miteinander umgehen. Dies merkt man insbesondere im Familiären. Die Familie hat dort – so wie ich es oft empfunden habe – einen für uns manchmal kaum noch nachzuempfindenden Stellenwert. Familienmitglieder kommen immer an erster Stelle und die Sorge um sie kommt oft einer Selbstaufgabe gleich. Kinder und Mütter werden uneingeschränkt geliebt und gelobt. Ich glaube, persönliche Kritik an den eigenen Kindern oder der eigenen Mutter, die über erzieherische Ermahnungen wie Tischmanieren etc. hinausgehen sind weitestgehend unbekannt. Einerseits habe ich diesen sehr liebevollen Umgang miteinander als sehr schön empfunden, allerdings war er mir an anderen Stellen auch oft zu unreflektiert und unkritisch. Und auch ich als Fremde kam mehr als einmal in den Genuss einfach aufgenommen zu werden und für eine begrenzte Zeit einfach dazu zugehören, ohne dass ich irgendetwas leisten oder mich sonst wie beweisen musste. Wahrscheinlich habe ich mich wegen dieser akzeptierenden Herzlichkeit in dem ganzen Jahr kaum einsam gefühlt.
Mit jemandem ins Gespräch zu kommen war nie schwer. Mir erscheinen „die Latinos“ wesentlich offener als wir Nordeuropäer. Wo man zusammen kommt, sei es in der Kneipe oder im Wartesaal eines Busbahnhofes, unterhält man sich wesentlich schneller mit Fremden, als hier zu Lande. Mehrfach wurde ich Zeugin, wie sich aus einfachen Small Talks erhitzte Diskussionen entfachten, in die sich immer mehr und mehr bis dahin unbeteiligte Fremde einmischten. Die Dynamiken waren überwältigend und für mich gänzlich neu.

Wie schön wäre es ein wenig mehr Gelassenheit, Lebensfreude, Herzlichkeit und Offenheit nach Europa tragen zu können. Aber letztlich bin ich auch „nur“ eine distanzierte, verhaltene aber auch zuverlässige und treue europäische Seele, die geprägt wird, durch das was sie gerade umgibt. So ist das wohl.

Tja, und nun habe ich ihn doch noch geschrieben, den Artikel über die generalisierenden Vergleiche, gegen den ich mich immer gewehrt habe.